17.02.2024 / Thema / Seite 12

Experimentelle Philosophie

Die Entwicklung der Persönlichkeit als Ziel. Zum 100. Geburtstag des sowjetischen Philosophen Ewald Iljenkow

Martin Küpper

Der 24. Mai 1968 war mit knapp elf Grad ein recht kühler Frühlingstag im sowjetischen Sagorsk, das heute Sergijew Possad heißt. An diesem Tag ging der 15ährige Alexander Suworow wie gewohnt zum Biologieunterricht im Taubblindenheim. Dort saßen die taubblinden Schüler um einen Teletaktor, das ist ein Gerät, das Schallwellen in Vibrationen umwandelt und eine ganze Zeile im Braillealphabet druckt. Der Biologieunterricht fand diesmal aber nicht statt, statt dessen saß der Psychologe Alexander Meschtscherjakow (1923–1974) am Teletaktor und bat die Schüler, einen Fragebogen auszufüllen. Suworow hatte allerdings Schwierigkeiten, nicht nur wegen der Fragen, er war auch abgelenkt, vor allem von dem Mann am gegenüberliegenden Tisch, den er kennenlernen wollte. Von ihm ging ein starker Tabakgeruch aus, und als nicht alle Schüler den Fragebogen ausfüllten, verließ dieser wieder den Raum. Er sagte, dass er erst Kontakt aufnehmen würde, wenn die Schüler die Fragen beantwortet hätten. Von diesem Tag an kam der Mann allerdings sehr häufig und blieb dem sogenannten Sagorsker Experiment bis zu seinem Tod 1979 treu. Wer war dieser kettenrauchende Mann, der sich für Taubblinde interessierte?

Das war der am 18. Februar 1924 geborene sowjetische Philosoph Ewald Iljenkow. Seine Mutter war Lehrerin, sein Vater der Schriftsteller Wassili Iljenkow (1897–1967). Ewald wuchs in einem Kommunehaus auf, in dem die Vergemeinschaftung des Haushalts und der Familie realisiert werden sollte. Das bedeutete unter anderem zentrale Wäschereien, Gemeinschaftsküchen, kollektive Erholungs- und Bildungsräume, Kindergärten und Spielplätze. Und weil dennoch Platzmangel herrschte und die Gemeinschaften trotz Kindergärten auf ein Leben ohne Kinder ausgerichtet waren, spielte der kleine Ewald mit seinen Altersgenossen häufig im kargen Treppenflur oder im Hof. Er wuchs dennoch behütet auf, umgeben von Literatur, Theater und Musik. 1941 begann er schließlich ein Studium am Moskauer Institut für Geschichte, Philosophie und Literatur. Das Studium musste er ein Jahr später unterbrechen, weil er einberufen wurde. Ab 1943 marschierte er als Artillerist bis nach Berlin, im Gepäck hatte er seinen Fotoapparat. Es gibt eine Reihe von Aufnahmen, die den jungen Iljenkow stolz und triumphierend in Uniform zeigen, etwa auf einer Löwenstatue, die zum Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal gehörte. Auch den Dorotheenstädtischen Friedhof hat er besucht, wo sich die Gräber von Hegel und Fichte befinden. Sein lebenslanges Interesse für die Klassische Deutsche Philosophie hatte der Dozent Boris Tschernyschew (1896–1944) im ersten Studienjahr geweckt.

Als Iljenkow 1946 in die Sowjetunion zurückkehrte, setzte er sein Studium an der Lomonossow-Universität in Moskau fort. Während dieser Zeit nahm er bereits Kontakt zu Georg Lukács (1885–1971) auf, als er Teil einer Gruppe war, die dessen Schrift »Der junge Hegel« ins Russische übersetzte. Als Lukács auf ihre Fragen antwortete, zeigte er sich verwundert, dass sie diesen umständlichen Weg wählten. Sie könnten auch den Kunstkritiker und Philosophen Michail Lifschitz (1905–1983) in Moskau aufsuchen. Daraus erwuchs eine lebenslange, philosophische Freundschaft. Lifschitz sah in Iljenkow einen Verbündeten, der mit seinem Interesse an Hegel, dem jungen Marx, aber auch an der Methodik der Kritik der politischen Ökonomie, die Tradition der Dialektik fortsetzen wollte.

Wissenschaft des Denkens

Nachdem Iljenkow 1953 seine Promotion über Fragen der materialistischen Dialektik in Marx’ Werk »Zur Kritik der politischen Ökonomie« abgeschlossen hatte, blieb er Dozent und genoss – gemeinsam mit Walentin Korowikow (1924–2010) – viel Zustimmung unter den Studierenden. Beide verfassten im Frühjahr 1954 Thesen zur Frage, inwieweit die Philosophie und die Natur- und Gesellschaftserkenntnis in der Geschichte miteinander verflochten seien. Mit diesen Thesen versuchten die beiden, die Philosophie als eigenständige Wissenschaft zu etablieren. Und wie jede Wissenschaft verfügt sie über einen ihr eigenen, historisch gewachsenen Gegenstandsbereich. Der Gegenstand der Philosophie seien die logischen Kategorien und deren Entwicklung, wie man sie anhand der Philosophiegeschichte studieren kann. Diese logischen Kategorien bildeten die Form, in der und mittels derer sich die wissenschaftliche Erkenntnis von Natur und Gesellschaft durch die menschliche Praxis vollziehe. Die Philosophie sei also die Wissenschaft des wissenschaftlichen Denkens, seiner Gesetze, Formen und Entwicklung.

Ihr Vorschlag zielte darauf, die Philosophie intensiver zu akademisieren, sie in neue Teilbereiche aufzugliedern und von einigen weltanschaulichen Aufgaben zu entbinden. Damit verknüpft war die Frage, inwieweit der Marxismus-Leninismus, dessen Quellen und Bestandteile die Klassische Deutsche Philosophie, die englische Nationalökonomie und der französische Sozialismus sind, neue Bestandteile dazugewinnen und neue Quellen erschließen sollte, um ihn innerhalb des Sozialismus fortzuentwickeln.

Nachdem der Zweite Weltkrieg nun fast zehn Jahre vorüber und nach Stalins Tod von 1953 die weitere politische Entwicklung offen war, provozierten die Thesen heftigen Widerstand. Im Frühjahr 1955 wurde ein öffentliches Meeting veranstaltet, an dem mehr als 200 Personen teilnahmen. Iljenkow und Korowikow wurden von den etablierten Philosophen regelrecht vorgeführt, mehrere Resolutionen gegen sie verabschiedet. Ein Professor warnte davor, dass die beiden die Studierenden ins Reich der Gedanken ziehen wollen. Ein Teilnehmer soll gerufen haben, dass es unmöglich sei, den Professor ins Reich des Denkens zu ziehen, nicht einmal mit einem Lasso. Gelächter brach aus. Die beiden erhielten dennoch Lehrverbot, Korowikow verließ die Universität und wurde erfolgreicher Journalist, Iljenkow hatte schon vorher eine Stelle am Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften.

In den 50er und 60er Jahren arbeitete er an einer Reihe von Texten mit unterschiedlichen Inhalten. Als Typoskript kursierte jahrelang der Text »Die Kosmologie des Geistes«, der erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Das ist ein hochspekulativer Text, der unter dem Eindruck der ersten Wasserstoffbombe (1953) und der Inbetriebnahme des allerersten zivilen Atomkraftwerks (1954) geschrieben worden sein muss. Hierin unterbreitet Iljenkow den Vorschlag, dass dem Menschen als höchstem Produkt der Materie die Aufgabe zukäme, durch Freisetzung von Energie dem sogenannten Wärmetod des Universums etwas entgegenzusetzen, um einen neuen Zyklus der Materieentwicklung zu initiieren. Die Bedingung für diesen heroischen Akt der Selbstvernichtung sei eine klassenlose Gesellschaft, die überhaupt erst die materiellen und kulturellen Voraussetzungen schaffe, diese Entscheidung frei zu treffen.

Seine Dissertation über die Dialektik vom Abstrakten und Konkreten im »Kapital« von Marx aus dem Jahre 1956 beeinflusste sehr viele Arbeiten zur Methode der materialistischen Dialektik, auch weit über die Grenzen der Sowjetunion hinaus. Ohne es zu ahnen oder zu beabsichtigen, schlitterte Iljenkow hiermit in politische Probleme. Der italienische Verlag Feltrinelli, bei dem er sein Manuskript eingereicht hatte, veröffentlichte 1957 erstmals den Roman »Doktor Schiwago« von Boris Pasternak (1890–1960). Pasternak, der 1958 den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte, ihn aufgrund politischen Drucks aber ablehnte, konnte das Buch wegen seines Inhalts nicht in der Sowjetunion veröffentlichen. Im Zuge dieser kulturpolitischen Auseinandersetzungen geriet auch Iljenkow ins Kreuzfeuer und wäre beinah aus der KPdSU ausgeschlossen worden. In einer umstrukturierten und abgespeckten Variante konnte die Dissertation erst 1960 erscheinen, 1961 erschien sie bei Feltrinelli. 1982 wurde eine englische und erst 1997 eine komplette Fassung publiziert.

Neben den Schwierigkeiten, die Iljenkow immer wieder hatte und die ihn zermürbten, gab es aber auch Erfolge. Seine Dissertation wurde 1965 mit dem Tschernyschewski-Preis der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ausgezeichnet, er konnte in den wichtigsten Zeitschriften publizieren, wie dem Parteiorgan Kommunist, und auch gelegentlich ins Ausland zu Konferenzen reisen.

Um ihn herum oder besser gesagt in seiner Küche bildete sich in den 60er Jahren ein loser, informeller Zirkel. Gäste waren unter anderen Nikolai Semjonow (1896–1986), Nobelpreisträger für Chemie, und der spätere Dissident Boris Schragin (1926–1990). Mit den Dissidenten, die nach dem sogenannten Prager Frühling in der sowjetischen Intelligenz immer lauter wurden, hatte Iljenkow allerdings Schwierigkeiten. Obgleich er die Probleme beim Aufbau sozialistischer Verhältnisse deutlich vor Augen hatte, sah er in der sich verhärtenden Haltung der Oppositionellen den Bruch mit dem Sozialismus prädestiniert. Das kam für ihn als Bolschewist gar nicht in Frage.

Das Ideelle im Materialismus

Das zentrale Thema Iljenkows ist, inwieweit das Ideelle und das Materielle eine Einheit bilden. Ist das Ideelle Teil der Materie? Worin sind das Ideelle und das Materielle gleich? Worin unterscheiden sie sich? Und wie sind sie miteinander vermittelt? Für jeden Materialismus ist klar, dass Materie eine Bezeichnung der objektiven Realität ist. Allerdings ist der Charakter des Ideellen im Materialismus eine Kalamität. Iljenkow widmete diesem Thema zahlreiche Abhandlungen, wie seine 1968 fertiggestellte Habilitation, die den Titel »Zur Frage der Natur des Denkens« trägt.

In der wichtigen »Philosophischen Enzyklopädie« bringt er seine Position auf den Punkt. Darin heißt es: »Das Ideelle ist keine individuell-psychologische und erst recht keine physiologische, sondern eine gesellschaftlich-historische Tatsache, Produkt und Form der geistigen Produktion. Das Ideelle verwirklicht sich in den vielfältigen Formen von gesellschaftlichem Bewusstsein und Willen des Menschen, als des Subjekts der gesellschaftlichen Produktion des materiellen und des geistigen Lebens.«¹ Unter das Ideelle fallen dann Phänomene wie die Empfindungen, das Denken, die Psyche, aber auch der Staat, die Kultur oder die Theorie. All diese Phänomene besitzen nach Iljenkow wiederum eine »besondere Art von Objektivität«², die sich von der der körperlich-stofflichen Dinge unterscheide. Denn das Ideelle bestehe unabhängig vom einzelnen Individuum, nicht aber vom materiellen Reproduktionsprozess der menschlichen Gattung, der die Voraussetzung des Ideellen bilde. Das Ideelle sei der soziale Zusammenhang, den die Menschen unter bestimmten Bedingungen eingehen. Es bilde sich als ein Verhältnis zwischen materiellen Dingen, Prozessen, Ereignissen und Zuständen, wobei ein Objekt es selbst bleibt und zugleich in der »Rolle des Repräsentanten eines anderen Objekts auftritt«.³ Wenn eine Architektin eine Zeichnung anfertigt, ist das ideelle Arbeit, auch wenn sie aus Fleisch und Blut bestehend einen Computer verwendet. Das architektonische Modell ist dann ein ideelles Produkt, das ein einzelnes räumliches Moment eines bestimmten sozialen Zusammenhangs repräsentiert.

Iljenkow trat damit energisch den Versuchen entgegen, das Ideelle auf die Psyche zu beschränken oder gar im Gehirn ausfindig machen zu wollen. Die naturwissenschaftlich orientierte Forschung versucht bis in unsere Tage, das ideelle Phänomen Liebe als »Trick der Evolution« zu bezeichnen oder »das Gehirn als eigentlichen Ort des romantischen Geschehens« auszumachen. Bisher wurde jedoch nur enttäuscht zu Protokoll gegeben, dass Liebe »sich nicht so leicht unter künstlichen Laborbedingungen abbilden lässt« und es schwer sei, »wenn nicht gar unmöglich, sie zu entwirren«.⁴

Mit dem Philosophen Dawid Dubrowski (geb. 1929) lieferte sich Iljenkow zu diesen Fragen einen intensiven Schlagabtausch. Jener hielt ihm entgegen: »Wenn in allen denkbaren Fällen das ›Materielle‹ die objektive Realität bezeichnet, dann kann das ›Ideelle‹ nichts anderes bedeuten als die subjektive Realität des Bewusstseins, unserer inneren (geistigen) Welt und ihrer einzelnen Äußerungen.«⁵ Das architektonische Modell der Architektin sei dann »gewesenes Ideelles, das nunmehr zu einer sozialen objektiven Realität geworden ist«.⁶ Für Dubrowski ist die Definition des Ideellen von Iljenkow zu weitläufig. Denn dass ein materielles Objekt ein anderes repräsentiert, lasse sich auch in der Natur beobachten. Wenn eine Katze eine Maus sieht, dann leiten die Nervenimpulse ihrer Netzhaut Informationen an ihr Gehirn weiter. Die Informationen repräsentieren dann die objektiv-reale Maus.⁷

Für Iljenkow sieht die Sachlage anders aus. Die Katze sieht die Maus, erfährt aber nicht die Aktivitäten ihrer Netzhaut, die für das Sehen lediglich die Voraussetzung bilden. Dubrowski fragt danach, wie die Organe konstruiert sein müssen, dass Sehen möglich ist, aber nicht, was das Sehen ist, welche Funktionen es erfüllt. Für Iljenkow ist das Sehen eine »Tätigkeitsweise des denkenden Körpers«⁸ – und hier ist er ganz beim niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza (1632–1677), dessen Erbe er in den Dialektischen Materialismus aufnehmen möchte. Ein denkender Körper (darunter fallen auch Tiere) sei einer, der in der Lage sei, sich mit anderen Dingen oder Lebewesen koordiniert zu bewegen. Wenn die Katze sieht, dann erfasst sie die räumliche Ordnung. Sie bestimmt ihre Position entsprechend der Dinge oder Lebewesen im Raum und koordiniert ihre Tätigkeit anhand ihrer Bedürfnisse mit diesen. »Nichtdenkende Körper« hingegen können sich nicht im Raum koordinieren bzw. ihre Bewegungen anpassen, so merkwürdig das klingen mag.⁹ Ein gerades Lineal wird niemals einen Kreis zeichnen können. Wenn es bewegt wird, bricht es die Hindernisse in seinem Weg oder zerbricht daran.

Das Experiment von Sagorsk

Mit dieser Position blieb Iljenkow in der Minderheit, hatte allerdings auch Gleichgesinnte, vor allem unter den Vertretern der sogenannten kulturhistorischen Schule der Psychologie wie Alexander Lurija (1902–1977), Wassili Dawydow (1930–1998) und Alexei Leontjew (1903–1979). Die engsten Verbindungen unterhielt Iljenkow aber mit Meschtscherjakow. Spätestens ab Mitte der 60er Jahre waren beide miteinander befreundet. Meschtscherjakow war zeitweise Mitarbeiter von Lurija und später von Iwan Sokoljanski (1889–1960), der sich auf die pädagogische Arbeit mit Taubblinden spezialisiert hatte. In den 60er Jahren führte Meschtscherjakow dessen Arbeit fort – als Leiter des Labors für das Studium und die Erziehung von tauben, blinden und stummen Kindern am Institut für Defektologie in Moskau. Im Zuge dessen verlagerte er seine Arbeit immer mehr ans 1963 gegründete Kinderheim für Taubblinde in Sagorsk.

Die Arbeit mit Taubblinden unter der Ägide von Meschtscherjakow ist als »Experiment von Sagorsk« in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen, und Iljenkow hatte einen lebhaften Anteil an dessen Verlauf. Für den Psychologen Meschtscherjakow bestand die Kernfrage darin zu klären, was Taubblinde von Menschen unterscheide, die sehen und hören können, und ob Taubblindheit spezifische Probleme mit sich bringe. Für den Philosophen Iljenkow bestand die Kernfrage wiederum darin zu klären, wo der menschliche Geist beginnt und wie er konstituiert wird.

Eine seit der Aufklärung dominante Position behauptet nämlich, dass unser Geist eine in sich geschlossene Welt im Innern bildet, die uns nur durch sprachlich geformtes Denken zugänglich sei. Die Sprache bilde das Mittel, um uns nach außen mitzuteilen und von außen zu lernen. Für Taubblinde ergebe sich so eine dramatische Situation. Sie können weder etwas von außen aufnehmen noch ihre Empfindungen mitteilen. Ihr Geist »schlafe« also und müsse durch Sprache »wachgeküsst« werden.¹⁰

Die Arbeit mit den Taubblinden zeigte den Beteiligten, dass das Erlernen von Kommunikation ein wichtiges Ziel ist, etwa durch taktile Gebärdensprache. Die zentrale These war aber, dass die Entwicklung des Geistes nur dann einsetze, wenn das Kind elementare Aktivitäten zeige, etwa in der Form von koordinierter Bewegung im Raum. Sei das Kind von Geburt an taubblind, könne es sein organisches Bedürfnis nach Nahrung nicht befriedigen, weil es nicht wisse, wozu und wohin es sich bewegen solle. Mithilfe des Konzepts der gemeinsamen und geteilten Aktivitäten lerne das Kind mit einem Lehrer langsam die Aktionen, die es zur Bedürfnisbefriedigung brauche. Meschtscherjakow illustriert sein Konzept anhand der Rolle des Löffels. Das Kind müsse seine Handbewegung an die Form des Löffels anpassen und die nötigen Abläufe lernen. Die Kinder wehren sich zunächst dagegen, weil sie nicht wissen, dass ein Löffel dazu da sei, um eine Suppe zu essen. Ihre biologische Ausstattung sehe auch nicht vor, dass sie mit einem Löffel essen. Und indem die Kinder lernen, das Besteck zu benutzen, entwickeln sie ihre Bedürfnisse. Sie lernen, wie ein Bewegungsschema funktioniert, was auf andere Gegenstände anwendbar sein kann. Erst das Einstudieren solcher Tätigkeiten hinterlasse auch Spuren im Organismus, das Nervensystem beginne sich zu entwickeln. Der Löffel fungiert hierbei als ein Gegenstand, der durch menschliche Arbeit von Menschen für Menschen geschaffen wurde.¹¹

Iljenkow zog daraus den provokanten Schluss, dass ausnahmslos alle Formen des menschlichen Geistes sozial bestimmt seien: »Der gesamte menschliche Geist (alle 100 Prozent und nicht 80 Prozent oder gar 99 Prozent) entsteht und entwickelt sich in Abhängigkeit von der Arbeit der Hand in einem äußeren Raum, der mit solchen Gegenständen wie einem Löffel, einem Töpfchen, einem Handtuch, einer Hose, Socken, Tischen und Stühlen, Stiefeln, Treppen, Fensterscheiben usw. gefüllt ist. Das Gehirn ist lediglich das natürliche Material, das sich erst durch den aktiv-formativen Einfluss der aktiven Arbeit der äußeren Organe des Körpers in einem äußeren Raum, der (…) mit künstlich geschaffenen Dingen gefüllt ist, in ein Organ der spezifisch menschlichen Lebenstätigkeit und des Geistes verwandelt.«¹² Was Taubblinde mühsam sich aneignen müssen, gilt für jeden. Jedes Kind ist bereits im Mutterleib von Objekten umgeben, die von Menschen hergestellt wurden. Und bevor ein Kind auch nur ein Wort sprechen kann, hat es mit all seinen Sinnen erfahren, wie und wozu Gegenstände einsetzbar seien.

Das Ziel war aber nicht nur, Taubblinden beizubringen zu kommunizieren oder ihre biologischen Bedürfnisse weitestgehend selbständig zu erfüllen. Man wollte sie zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft machen, die in der Lage seien, sich Wissenschaft und Kultur anzueignen, gegebenenfalls sogar selbst zu produzieren. Immer wieder gab es Fälle, in denen das glückte, wie die taubblinde US-amerikanische Schriftstellerin Helen Keller (1880–1968) bewies. In Sagorsk gelang es, vier der Schüler zum Studium zu führen, das sie 1977 beendeten. Alexander Suworow, der bei seiner ersten Begegnung mit Iljenkow von dessen Tabakgeruch beeindruckt war und ein enger Freund wurde, promovierte sogar in Psychologie und war daraufhin wissenschaftlich tätig.

Der Erfolg der Zöglinge schien Meschtscherjakow und Iljenkow recht zu geben. Doch war dies der experimentelle Beweis für ihre Thesen? Ihre Gegner sahen das nicht so. Das »Experiment von Sagorsk« geriet schon früh unter Beschuss. Man warf ihnen unter anderem vor, dass ihre Arbeit das Gegenteil beweise. Denn die Taubblindheit zeige nur, dass die angeborenen Fähigkeiten des Menschen durch das Fehlen der Sinne unterdrückt und durch die Pädagogik hervorgebracht würden. Die Graduierten verloren zudem ihre Sinne erst im Laufe ihrer Kindheit, waren also nicht von Beginn an taubblind.

Nachdem Meschtscherjakow 1974 gestorben war, versuchte Iljenkow sie bis zu seinem Suizid 1979 weiter zu betreuen. Man besorgte ihnen neue Stellen am Institut für Allgemeine und pädagogische Psychologie unter der Leitung von Wassili Dawydow. Aber das waren nur Übergangslösungen. So verlor Dawydow seine Stelle zu Beginn der 80er Jahre. 1988 wurde unter den Fahnen von Glasnost und Perestroika gar eine Konferenz abgehalten, die das Vermächtnis von Meschtscherjakow und Iljenkow öffentlich in Frage stellte. Unter den Kritikern befanden sich nun auch einige der Taubblinden und Betreuer aus Sagorsk sowie Wissenschaftler, unter ihnen Dawid Dubrowski, der Iljenkow Manipulation der Parteipresse vorwarf, um seine Position durchzusetzen.¹³

Die theoretischen und wissenschaftspolitischen Auseinandersetzungen zeigen, wie schwierig es war, an einem Strang zu ziehen. Gegenüber Suworow hat Iljenkow hierzu die Fabel »Der Schwan, der Hecht und der Krebs« von Iwan Krylow (1769–1844) zitiert: »Einst wollten Schwan und Krebs und Hecht / fortschieben einen Karrn mit seiner Last / und spannten sich zu drein davor in Hast. / Sie tun ihr Äußerstes – er rückt nicht von der Stelle. / Die Last an sich wär’ ihnen leicht genug, / allein der Schwan nimmt aufwärts seinen Flug, / der Krebs keucht rückwärts, und der Hecht strebt in die Welle. / Wer schuld nun ist, wer nicht, darüber hier kein Wort, / der Karren aber steht noch dort.«¹⁴

Der philosophische Schwan würde hinfort fliegen, die psychologische Krabbe rückwärts gehen und der Hecht die Kinder fressen. Geselle sich zur Genossenschaft der Disziplinen nicht auch deren Eintracht, drohe das wissenschaftliche Tun zur Quälerei zu werden. Immer wieder hat Iljenkow betont, dass Philosophie, Psychologie und Pädagogik nicht drei verschiedene Disziplinen seien, sondern drei Ebenen ein und derselben Wissenschaft.¹⁵ Gemeint war eine Wissenschaft, deren Ziel es ist, die Entwicklung von Persönlichkeiten zu befördern als einem realen Organisationsprinzip des Kommunismus.

Anmerkungen

1 Zit. n. Gudrun Richter: Einleitung, in: Ewald Iljenkow: Die Dialektik des Ideellen, Hamburg 1994, S. 6

2 Ewald Iljenkow: Die Dialektik des Ideellen, in: ebd., S. 160

3 Ebd., S. 165

4 Christian Wolf: Liebe ist Biochemie – und was noch? (2013), https://www.dasgehirn.info/handeln/liebe-und-triebe/liebe-ist-biochemie-und-was-noch (zuletzt besucht am 31.1.2024)

5 Zit. n. Hubert Laitko: Zur Interpretation der Kategorie »Ideelles«. Aus der Diskussion, in: Sowjetwissenschaft 1/1989, S. 88

6 Ebd., S. 89

7 Vgl. David I. Dubrovsky: The Problem of the Ideal, Moscow 1983, S. 43

8 Ewald Iljenkow: Das Denken als Attribut der Substanz, in: ders.: Die Dialektik des Ideellen, Hamburg 1994, S. 69

9 Vgl. ebd., S. 71

10 David Bakhurst and Carol Padden: The Meshcheryakov Experiment: Soviet Work on the Education of Blind-deaf Children, in: Learning and Instruction 1/1991, S. 205

11 Evald Ilyenkov: A Contribution to a Conversation About Meshcheriakov (1975), in: Journal of Russian and East European Psychology, 4/2007, S. 88 ff.

12 Ebd., S. 93 (Übersetzung von M. K.)

13 Vgl. David Bakhurst and Carol Padden: The Meshcheryakov Experiment: Soviet Work on the Education of Blind-deaf Children, in: Learning and Instruction 1/1991, S. 213

14 Iwan Krylow: Fabeln, in: https://www.projekt-gutenberg.org/krylow/fabeln/chap043.html (zuletzt besucht am 31.1.2024)

15 Vgl.: Aleksandr Suvorov: Experimental Philosophy (E.V. Ilyenkov and A.I. Mehcheriakov), in: Journal of Russian & East European Psychology, 6/2003, S. 88

Martin Küpper schrieb an dieser Stelle zuletzt am 11.12.2021 über Technikphilosophie bei Hans Heinz Holz.

https://www.jungewelt.de/artikel/469554.marxistische-philosophie-experimentelle-philosophie.html