15.02.2024 / Kapital & Arbeit / Seite 9

Nächster »Marsch auf Delhi«

Indien: Bauern protestieren erneut für höhere Abnahmepreise und Schuldenerlass. Bewegung nach Massenprotesten von 2021 zersplittert

Thomas Berger

Die indische Hauptstadt Delhi gleicht seit drei Tagen einer Festung. Metrostationen sind geschlossen. Die wichtigsten Zufahrten in die 25-Millionen-Einwohner-Metropole sind von Straßensperren der Sicherheitskräfte blockiert. Lkw, Container und Zementblöcke stehen quer auf den Straßen, manche der Barrikaden sind mit Stacheldraht bewehrt. Tausende, zum Teil schwer bewaffnete Polizisten und Soldaten sollen den »Marsch auf Delhi« stoppen, zu dem Bauernverbände am Dienstag aufgerufen haben.

Schon am Dienstag wurde bei der Niederschlagung der Proteste auch Tränengas eingesetzt. Mindestens 60 Verletzte soll es laut Informationen der Times of India bereits gegeben haben. Die Teilnehmer der Protestaktion kommen in erster Linie aus den beiden Unionsstaaten Haryana und Punjab, die als Indiens Kornkammern gelten. Aber auch aus der bevölkerungsreichsten Region Uttar Pradesh, östlich an Delhi angrenzend, haben sich Traktoren auf den Weg in die Metropole gemacht.

Noch hat der Marsch »Delhi Chalo« längst nicht die Dimension der rund ein Jahr währenden Massenproteste, die das Land 2020/2021 erschüttert hatten, erreicht. Aber der Zeitpunkt des Aufruhrs ist gut gewählt. Im Mai oder April sollen Parlamentswahlen stattfinden. Premierminister Narendra Modi von der hindunationalistischen Bharatiya Janata Party (BJP) strebt eine dritte Amtszeit an. Bisher gilt ein Erfolg als wahrscheinlich.

Zentrale Forderung der Bauern ist eine Erhöhung des garantierten Abnahmepreises (Minimum Support Price) für 23 landwirtschaftliche Erzeugnisse. Auch ein Schuldenerlass steht erneut auf ihrer Agenda. Der Unmut der Landwirte entzündete sich vor allem daran, dass seitens der Politik wenig für die Verbesserung ihrer Lage getan wurde, seit die großen Proteste vor etwas mehr als zwei Jahren beendet wurden. Dabei steht ihre Bedeutung für die Ernährungssicherheit von mittlerweile mehr als 1,4 Milliarden Menschen in Indien außer Frage. Zudem sind die Exporte von Nahrungsmitteln, vor allem Reis, ein Stützpfeiler der indischen Wirtschaft. Weil alle Versuche, die beiden Seiten erneut an den Verhandlungstisch zu bringen, scheiterten, stehen die Zeichen seit Dienstag auf Eskalation.

Nach dem letzten großen Aufruhr hatte sich die Modi-Regierung im November 2021 gezwungen gesehen, eine Reform des Agrarsektors zu stoppen. Wochenlang hatten Zehntausende Bauern die Hauptstadt regelrecht belagert. Sie erfuhren breite Solidarität aus anderen Kreisen der Gesellschaft. Gegen diesen Widerstand waren Gesetze, die eine Öffnung der Branche für Kapitalmarktspekulationen bedeutet hätten, nicht durchsetzbar.

Die damalige Stärke der Bauern lag in ihrer Einigkeit: Rund 40 große Organisationen hatten sich in Dachverbänden zusammengetan, das Spektrum reichte von wohlhabenden Landwirten aus der oberen Mittelschicht über Kleinbauern bis hin zu Tagelöhnern. In der Zwischenzeit hat sich nun aber der größte Dachverband SKM gleich mehrfach gespalten. Und die Fraktion, welche die neuerlichen Proteste maßgeblich initiiert hat, trägt in Klammern den Zusatz »non political«. Andere Splittergruppen aus der vormaligen Einheitsfront sind bisher explizit nicht mit von der Partie.

Während landesweit kleinbäuerliche Strukturen dominieren, sind Großbetriebe aus Haryana und Punjab nun abermals die wichtigste Triebkraft der Proteste. Viele sind hoch verschuldet, die Folgen des Klimawandels schmälern ihre Ernteerträge. Ein heraufgesetzter Mindestabnahmepreis würde da ihre finanziellen Risiken zumindest etwas minimieren. Wichtige Oppositionsparteien, darunter die einst regierende Kongresspartei (INC) sowie die in Delhi und Punjab regierende Aam Aadmi Party (Partei des kleinen Mannes) unterstützen die Forderungen, die auch Handlungsempfehlungen einer Fachkommission entsprechen, welche nach dem Ende der vorigen Proteste von der Regierung eingesetzt worden war.

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