27.07.2022 / Ansichten / Seite 1 (Beilage)

Rebellische Kurve

Losungen, Lieder, Leidenschaft: Aktive Fans schaffen Atmosphäre in den Stadien – nur: Wie politisch soll ihr Protest sein? Im WM-Jahr etwa?

Oliver Rast

Sie mucken auf. Immer mal wieder: aktive Fans, Ultras, Firms. Stimmungsvoll, lautstark; im Block, in der Kurve. Mit Bannern und Bengalos, mit Choreographien und Corteos. Sie können beides – ihren Klub abfeiern und Missstände anprangern. Anlässe für Protest gibt es viele: Hyperkommerz im Ligabetrieb, Ausverkauf der Vereinstradition, Kriminalisierung von Fankultur.

Und soviel steht fest: Die größte Jugendbewegung des Landes hat die Coronakrise überlebt, trotz Auszeit, trotz »Geisterspielen«. Zäh und beständig scheint die dynamische Fanszene, Generationswechsel klappen. Aber: In dieser Saison passiert etwas, was es so noch nicht gegeben hat. Eine WM im Spätherbst. Faninitiativen mobilisieren längst, gegen den Zeitpunkt, gegen den Austragungsort. Kein Spieltag ohne Spruchbänder in den Arenen, die Botschaft ist klar: »Boycott Qatar!« Das Gros der Anhängerinnen und Anhänger der volkstümlichen Kickerei weiß, die WM-Stadien im Emirat sind Leichenfelder. Keine Orte für Tanz, Gesang, Party.

Nur, wie rebellisch ist das Subjekt »Fan«, wie politisiert die Kurve? Oft heißt es, Politklimbim aus dem weiten Rund raushalten, der Einheit der »Klubfamilie« wegen. Zu unterschiedlich ist das Publikum, zu verschieden sind die Meinungen. Die schönste Nebensache der Welt soll irgendwie Freizeitspaß bleiben. Dennoch, viele ahnen den Widerspruch; Vereine machen Politik, Verbände um so mehr. Und überhaupt: Fanrechte sind nicht gratis. Nicht von ungefähr organisierten die aktivsten Kerne aus den Fanszenen Demos gegen Einschränkungen des Versammlungsrechts und restriktive Polizeigesetze mit.

Einer will noch mehr, wünscht Reaktionen. Raphael Molter, ein junger Autor, Köpenicker – und, richtig: Unioner. Sein jüngst erschienenes Buch heißt »Friede den Kurven, Krieg den Verbänden. Fußball, Fans und Funktionäre.« Pointierter Titel, angelehnt an »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!«, den Schlachtruf der französischen Revolutionsarmee von 1792, den der Literat Georg Büchner 1834 in seinem Pamphlet »Der Hessische Landbote« aufgegriffen hatte. Eine beliebte Schullektüre, von Lehrkräften in der Penne jedenfalls.

Lehrreich sind ferner Molters Kernthesen: Der Fußball, genauer: der kapitalistische Fußball, wie er ihn nennt, ist keineswegs autonom, unpolitisch. Vielmehr biggest Sportbusiness, das nach hiesigen »Marktgesetzen« funktioniert. Maximale Konkurrenz, maximaler Erlös sind quasi gesetzt. Kommerzialisierung, Merchandising samt Mutation von mitgliedergeführten Vereinen zu börsennotierten »Mega­klubs« (Christian Spiller), die ihre exklusive »Superliga« wollen, sind Symptome. Eine logische Folge mit System. Aber eben nur Phänomene, Auswüchse des »Schneller-höher-weiter«.

Was tun? Aktive Fans, Ultragruppen können Molter zufolge eine Art Gegenpol zu Verbänden und deren Politik sein, kurz: zum DFB, zur FIFA. Vielleicht sogar ein Machtfaktor. Hinter und vor dem Stadiontor. Ein recht aktuelles Beispiel ist der im Mai 2021 gegründete Dachverband der Fanhilfen. Eine koordinierte Stimme aus den Blöcken, die seitens der Verbandsbosse von DFB und DFL kaum ignoriert werden kann.

Richtig ist indes auch: Ultraaktives Fandasein ist meist lebensphasisch. Vier, fünf Jahre on tour; vier, fünf Jahre ekstatisch. Nicht nur das: Es ist strapaziös, zuweilen leidvoll, alle Sensoren auf den Lieblingsverein zu richten. Herz, Hirn, alles. Loyal zum Klub, zum Vorstand, zu Klubentscheidungen. Oft ein verdammtes Dilemma.

Zurück zur Wüsten-WM auf der arabischen Halbinsel. Die Boykottforderung ist durchaus populär, scheint mehrheitsfähig, unter Stadionbesucherinnen und Stadionbesuchern allemal. Und: Sie ist bestmöglicher Katalysator einer »kurven- und stadienübergreifende Bewegung« (Molter) – mit dem saisonalen Kampagnenhöhepunkt: »Boykottiert die Blut-WM in Katar!«

https://www.jungewelt.de/beilage/art/430706