15.06.2022 / Kapital & Arbeit / Seite 1 (Beilage)

Imperialismus im Niedergang

Kapital setzt angesichts der schweren Krise auf aggressiven Expansionskurs. Aufrüstung und Krieg sollen für sinkende Gewinnmargen entschädigen

Raphaël Schmeller und Simon Zeise

Im Kapitalismus ist eines sicher: Krise hin oder her, am Ende gewinnt immer die Bank. Ray Dalio, Chef des größten Hedgefonds Bridgewater, nimmt Verwerfungen auf den Weltmärkten gelassen: »Entscheidend dabei ist nur, dass wir mal auf fallende und mal auf steigende Kurse setzen. Wenn man da richtigliegt, lässt sich an jeder Marktbewegung verdienen«, sagte er Mitte Juni im Interview mit der FAZ.

Doch so locker wie unter Finanzoligarchen geht es nicht überall zu. Steigende Energiepreise, gestörte Lieferketten, drohender Börsencrash: Die ökonomischen Folgen des Ukraine-Kriegs für die Weltwirtschaft sind erheblich. Westliche Sanktionen gegen Russland beschleunigen Restrukturierungsprozesse, die sich bereits seit Jahren abzeichnen. So bringt die zunehmende Abschottung Moskaus vom Weltmarkt den Kreml dazu, sich Beijing weiter anzunähern. Damit einhergehend könnte auch der Trend zur Dedollarisierung einen deutlichen Schub erfahren.

In den westlichen Gesellschaften hat sich die Krise verfestigt. Die Spekulationswellen bauen sich turmhoch auf. Deutschland ist Weltmeister im Kapitalexport. Die Konzentration von Eigentum nimmt zu, insbesondere auf dem Immobilienmarkt, wo die Preisblase am stärksten wahrnehmbar ist. Den Monopolen dient die Krise ferner als Chance, um weitere Preissteigerungen durchzusetzen. Irgend jemand muss die Zeche ja zahlen. Niedrige Löhne, Armutsrenten und marode Infrastruktur sind die Kehrseite der Medaille. Manch Ökonom spricht vom deutschen Vampir, der dem Weltmarkt das Blut entzieht. Der Staat garantiert der Militärindustrie satte Profite, deren Aktien seit Beginn des Ukraine-Kriegs durch die Decke gehen. Schließlich hat die Bundesregierung den Rüstungshaushalt verdoppelt. Erklärtes Ziel Berlins ist es, zur drittgrößten Militärmacht hinter den USA und China aufzusteigen.

Auch das Imperium ist angezählt. Für die Big-Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley stehen die Zeichen auf Abschwung. Die von der Fed eingeleitete Zinswende macht Tesla und Co. einen Strich durch die Rechnung, da mit den für ihre aggressive Expansionspolitik benötigen niedrigen Zinsen jetzt Schluss sein soll. Resultat ist gedämpftes Wachstum – keine ideale Voraussetzung dafür, um die nächste Spekulationswelle loszutreten. Auch mit albernen digitalen Pseudowährungen lässt sich kein Geld mehr machen. Vom Embargo gegen Russland profitiert hingegen neben dem militärisch-industriellen Komplex vor allem die US-Frackinggasindustrie, die ihr schmutziges und teures LNG nach Europa verkaufen kann. Berlin und Washington, die jüngst erklärt hatten, »Vorreiter beim Klimaschutz« werden zu wollen, treiben die Klimazerstörung am stärksten voran.

Angesichts dieser Verwerfungen mag man ins Staunen geraten. Dabei ist der Kapitalismus im historischen Vergleich ein noch recht junges Wirtschaftssystem. Allerdings legt er ein unglaubliches Tempo vor, macht sich den Weltmarkt untertan, akkumuliert Reichtum in unermesslicher Weise und peitscht die Entwicklung der Produktivkräfte voran. Der Kampf um die Aneignung des Eigentums erfordert gewaltige Investitionen, es werden Heerscharen von Analysten und Rechtsanwälten unterhalten und fieberhaft daran gearbeitet, diesem Eigentum eine seiner Verwertung angemessene Rechtsform zu geben. Der Wahnsinn muss ein Ende finden. Es ist an der Zeit, die Ausbeuter zu enteignen.

Diese jW-Beilage wird -illustriert mit Motiven aus der US-Frackingindustrie und deren Folgen für Mensch und Umwelt

https://www.jungewelt.de/beilage/art/427914