04.05.2022 / Ausland / Seite 1 (Beilage)

Den Umständen trotzen

Außenpolitisches Dilemma und innere Reformen: Chinas Weg in der multipolaren Welt

Marc Püschel

Asymmetrische Ignoranz bleibt das hervorstechende Merkmal der westlichen Auseinandersetzung mit der Volksrepublik China. Während in dem ostasiatischen Land fleißig alle Entwicklungen in der Welt studiert werden, weiß man hierzulande noch immer wenig über Fortschritte und Probleme des seit fast 73 Jahren von der Kommunistischen Partei regierten Staates. Selbst ohne konkreten Anlass ist es daher immer gewinnbringend, etwas über China zu lernen. Die vorliegende Beilage versucht, wenigstens einige Wissenslücken zu schließen.

Dabei wollen wir auch einen Blick über die Geschichte der Volksrepublik hinaus werfen: Hannes A. Fellner schreibt über den Sturz des chinesischen Kaiserreichs und die Gründung der Republik China vor 110 Jahren. Wie schon in Russland 1917 konnte sich der bürgerliche Staat nie richtig etablieren, auch wenn sich dessen Krise in China durch den seit 1927 wütenden Bürgerkrieg und die Invasion der japanischen Faschisten erst noch weiter zuspitzen musste, ehe es der Kommunistischen Partei 1949 gelang, die Volksrepublik auszurufen. Sebastian Carlens beleuchtet sowohl den Weg dorthin als auch die unmittelbaren außenpolitischen Konsequenzen. Ein damals entstandener und bis heute schwelender Konflikt ist die Taiwan-Frage. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurden hierzulande Behauptungen laut, nun werde auch China Taiwan überfallen. Dabei wird die ganz anders gelagerte Konstellation ignoriert. Außer einer Handvoll kleiner Inselstaaten haben alle Nationen und die UNO die Ein-China-Politik anerkannt. Es sind vor allem die USA und ihre Verbündeten, die versuchen, schrittweise diesen Status quo aufzuweichen. Beijing besteht darauf, die Frage als innere Angelegenheit zu betrachten. Mit ihrer Betonung des außenpolitischen Primats der staatlichen Souveränität gerät die KP jedoch in ein Dilemma. Einerseits kann sie die russische Invasion der Ukraine nicht unterstützen, zumal China bis dato gute Beziehungen mit Kiew unterhalten hat. Andererseits ist Beijing auf der internationalen Bühne auf das Bündnis mit dem kapitalistischen Nachbarn Russland angewiesen, um geopolitisch nicht isoliert zu werden. Diese außenpolitische Zwickmühle erläutert Jörg Kronauer. Im Fokus von Robert Fitzthum steht Taiwan.

Besonders ökonomisch gibt es spannende Entwicklungen: Die von Washington forcierte wirtschaftliche Entkopplung führte zur chinesischen Strategie der »zwei Kreisläufe«, die Marcel Kunzmann untersucht. Innenpolitisch ist die jüngste Vergangenheit der Volksrepublik vor allem durch die Antikorruptionskampagne während der Amtszeit von Generalsekretär Xi Jinping geprägt. Wir werfen einen Blick auf die Eigenart und die historischen Anknüpfungspunkte dieser politischen Maßnahme, deren Bedeutung für die chinesische Innenpolitik meist unterschätzt wird.

Viele andere Herausforderungen, vor denen China steht – darunter der Klimawandel, die Überalterung der Gesellschaft oder die seit 2018 wieder verstärkt geführte Debatte über die Eigentumsfrage –, kann die vorliegende Beilage nicht mehr aufgreifen. Das gilt auch für die dringliche Frage des Umgangs mit Corona. Inmitten einer Welt, die auf rücksichtslose Durchseuchung setzt, wird es für die Volksrepublik immer schwieriger, ihre Zero-Covid-Strategie zu verfolgen. Wie die angespannte Situation in Lockdownstädten wie Shanghai sich weiter entwickeln wird, ist noch nicht abzusehen – ebensowenig jedoch auch, welche Folgen die unterschiedliche Coronapolitik im Systemvergleich haben wird. Seine offenkundige »Profit vor Leben«-Linie und Dutzende Millionen Long-Covid-Fälle werden dem »freien Westen« mittel- und langfristig kaum zum Vorteil gereichen. Der Ausgang des Systemkonflikts bleibt offen. Zeit, zu lernen!

https://www.jungewelt.de/beilage/art/425255