09.02.2022 / Inland / Seite 1 (Beilage)

Blatt mit Linie

Seit 75 Jahren nutzt die junge Welt den Marxismus als Kompass. Das gefällt nicht allen

Stefan Huth

Empörter Einwurf: »Bürgerliche Medien? Wenn ich das höre, gehe ich an die Decke … Ein Kampfbegriff, der nichts mit der Realität zu tun hat!« Der sich da so echauffiert, ist ordentlich bestallter Chef der Nachrichtenabteilung einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt – und er weist den Autor auf das Spektrum von Bild über Die Zeit bis zur Süddeutschen hin, wo ja doch eine breite Themenpalette mit sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen, Wertungen und Darstellungsweisen zu finden sei. Viel scharfe Kritik auch an gesellschaftlichen Missständen hier und da.

Kein Widerspruch meinerseits, allerdings eine nicht unerhebliche Einschränkung: Wollen der kollektive Westen und seine Führung wieder einmal einen Krieg anzetteln, gelten andere Regeln, muss die Buntheit in der Berichterstattung, auf die man sich soviel zugute hält, grauer Uniformität weichen. Das zeigt sich dieser Tage erneut, wenn es gegen Russland und China geht und dem Staunenden sich Fragen aufdrängen: Wird das eigentlich zentral gesteuert, oder tun die das aus eigenem Antrieb? Glauben die Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen wirklich an die Lügenmärchen, Zerrbilder, die sie da so aggressiv und in Dauerschleife verbreiten?

Einerlei, das Resultat ist dasselbe: eine weitgehend formatierte Öffentlichkeit, deren zweifelnder Teil sich inzwischen längst über andere Kanäle, die viel zitierten »alternativen Medien«, zu informieren sucht. Das ist Ausdruck einer Legitimationskrise und beschreibt jenen Zustand, den die junge Welt vor einigen Jahren in den provokanten Slogan »Sie lügen wie gedruckt. Wir drucken, wie sie lügen« fasste – und der in Zeiten rechten »Lügenpresse«-Geschreis inzwischen leider an Trennschärfe eingebüßt hat. Doch inhaltlich zurückzunehmen gibt es hier gar nichts, im Gegenteil: Der Anspruch dieser Zeitung, aufklärerisch zu wirken, besteht heute wie ehedem.

Seit dem Erscheinen ihrer ersten Ausgabe am 12. Februar 1947, vor 75 Jahren, einem Menschenalter, nutzt die junge Welt den Marxismus als Kompass. Entsprechend geht sie von Grundproblemen aus, fragt nach Eigentums- und Klassenverhältnissen, nach den Interessen, die herrschende Politik leiten, und dem Preis, den die Beherrschten dafür zu zahlen haben. Jeden Tag eine Zeitung gegen Faschismus und Krieg, lautet die Devise. So gesehen ist klar, wer sich an der Existenz dieses unabhängigen Mediums stört. Daher die Mobilisierung des Inlandsgeheimdienstes, der die jW seit nunmehr 24 Jahren als »bedeutendstes Printmedium im Linksextremismus« observiert und in seinen Jahresberichten an den Pranger stellt, daher die erklärte Absicht einer Bundesregierung, diesem störenden Gewächs, Pressefreiheit hin oder her, den »Nährboden entziehen« zu wollen. Und nebenbei marxistische Denkansätze per se als Gesinnungsdelikt zu kriminalisieren.

Doch hat der Verfolgungseifer noch einen anderen Antrieb. Die jW verdankt ihre Existenz der DDR und bezieht sich, ohne Schönfärberei zu betreiben, grundsätzlich positiv auf den anderen, sozialistischen deutschen Staat und seine Traditionen. Das ist nicht vorgesehen, stößt auf und darf nicht sein. Antifaschismus, Antimilitarismus und internationale Solidarität sind Werte, denen sich Redaktion, Verlag und Genossenschaft bis heute verbunden fühlen.

Die Beiträge in dieser Beilage werfen Schlaglichter auf die wechselvolle Geschichte der jungen Welt, vor allem zeigen sie Kontinuitäten. Es kommen Zeitgenossen und Weggefährten zu Wort, Kolleginnen und Kollegen, deren Engagement die Existenz dieses oppositionellen Blattes zu verdanken ist, das sich heute gegen jede Wahrscheinlichkeit, aber mit einigem Erfolg, auf dem prekären Pressemarkt behaupten kann – »dogmatisch, aber mit leichter Hand«, und hoffentlich noch auf manches weitere Jahrzehnt.

Stefan Huth ist jW-Chefredakteur

https://www.jungewelt.de/beilage/art/419650