27.05.2021 / Feuilleton / Seite 1 (Beilage)

Ich nehm’ sie alle!

Jetzt aber dalli: Her mit den Preisen! Ein sehr offener Brief an den Literaturkritiker Gerrit Bartels

Christian Y. Schmidt

So, langsam reicht’s. Ich bin geschlagene 64 Jahre alt, habe über zehn Bücher geschrieben und noch immer keinen einzigen Preis. Keinen! Null! Dabei soll es laut Börsenblatt mehr als 1.130 Literaturpreise in Deutschland geben, zu denen sich noch diverse Sachbuch- und Journalistenpreise gesellen. Ja, angeblich bekommen jede deutsche Schriftstellerin und jeder deutsche Schriftsteller einen Preis, egal, was und wie gut oder schlecht sie oder er schreibt. Das haben jedenfalls Sie, Gerrit Bartels, im September 2019 so in den Tagesspiegel hineingeschrieben: »In Deutschland bekommt jeder Autor einen Preis«, und zwar nach dem »Prinzip Gießkanne«. Jeder kriegt also einen Preis hinterhergeschmissen, nur ich, darauf hat man sich offenbar insgeheim geeinigt, bekomme keinen.

Dabei schien es, verehrter Herr Bartels, am Anfang meiner Karriere so, als wollte Ihnen jemand recht geben. Vor dreißig Jahren nämlich, im Jahr 1991, verlieh mir der Adorno-Schüler und Soziologe Dieter Bott den »Viva-Maria-Preis« und überwies mir tausend Mark, weil ich in einem Titanic-Text den Windbeutel Matthias Horx erledigt hatte. Doch weil sich Bott den Preis nur auf die Schnelle selbst ausgedacht hatte und ich die tausend Mark zudem versteuern musste, kann dieser nicht als echter Preis gelten, sondern allenfalls als ein Prä-Preis oder eine Preis-Ouvertüre.

Eine Ouvertüre jedoch zu nichts, denn danach passierte preismässig bei mir gar nichts mehr, nada, niente. Es nutzte nichts, dass ich Bücher in den bedeutendsten Verlagen veröffentlichte, die allesamt von der Kritik gefeiert wurden: »Ein Glanzstück« schrieb die FAZ über eines, »ein kleines Gesamtkunstwerk« nannte ein WDR-Onkel ein anderes. Ebenso wumpe war, dass der Lektor von Friedrich Dürrenmatt (Preise nicht zählbar) und Patricia Highsmith (13 Ehrungen laut Wikipedia) mich höchstpersönlich und ohne Not mit Bill Bryson (unter anderem Officer of the Order des verdammten British Empire) und Douglas Adams (mindestens 42 Preise) verglich oder auch ein Rezensent einer renommierten Tageszeitung mit Hermann Hesse (Nobelpreis für Literatur): Einen Preis, mein lieber Herr Gerrit Bartels, gab es für mich trotzdem nicht.

Und das, obwohl ich es den mehr als tausend deutschsprachigen Jurys – kann es eigentlich sein, dass jeder dritte Deutsche in einer Literaturpreisjury sitzt; können Sie, bester Bartels, dem mal nachgehen? – wirklich leichtgemacht habe, weil ich mit nahezu jedem neuen Buch ein anderes Genre bediente. Dem politischen Sachbuch »Wir sind die Wahnsinnigen« folgte die Reiseerzählung »Allein unter 1,3 Milliarden«, an die sich das etwas andere China-Lehrbuch »Bliefe von dlüben« anschloss. Danach kam mit »Zum ersten Mal tot« ein Buch mit biographischen Miniaturen, sodann mit »Der letzte Huelsenbeck« ein fast phantastischer Jahrhundertroman und schließlich »Der kleine Herr Tod«, ein Kinder- und Jugendbuch sowie ein Märchen für Erwachsene. Würde also alles mit rechten Dingen (»Gießkannenprinzip«) zugehen, hätte ich mindestens irgendeinen der zig Preise in einer der diversen Literatur- und Buch­kategorien gewinnen müssen; wenigstens so was wie den Einhard-Preis für biographische Literatur, der am Grab des fränkischen Gelehrten Einhard übergeben wird, in einer Friedhofsgießkanne oder so ähnlich.

Doch nein, trotz dieser Versatilität in nahezu allen Literatur- und Buchkategorien ging ich bis heute leer aus. Nur im Jahr 2018 kam ich in die Nähe eines Preises, als unfassbarerweise eine Jury »Der letzte Huelsenbeck« unter rund siebzig deutschsprachigen Debütromanen herausklaubte und ihn zusammen mit vier weiteren für den – mit 600 Euro übrigens erbärmlich dotierten – Bloggerpreis »Das Debüt« nominierte. Doch selbstverständlich bekam ich selbst diesen inferioren Preis nicht. Statt dessen fielen die preisverleihenden Literaturblogger, die in ihrer offenbar reich bemessenen Freizeit Internetseiten wie »Lesen macht glücklich« oder »Leckere-Kekse-Blog« betreiben, über das Jahrhundertwerk her und gaben ihm am Ende vier (4) magere Punkte. Das war der fünfte Platz von fünfen.

Zum Vergleich: Der Siegertitel erhielt 44 Punkte, der vorletzte immerhin noch 14. Eine der Begründungen für diese Demütigung, die des »Leckere-Kekse-Blogs«, ging so: »Der Autor Christian Y. Schmidt hat mit dem Ansatz viel gewagt, ist aber für meinen Geschmack einen Schritt zuweit gegangen … Sprachlich und konzeptionell aber durchaus interessant gestaltet.« Übersetzt heißt das wohl: Der Roman war mir nicht langweilig genug. Oder aber: Christian Y. Schmidt kann so gut schreiben, wie er will, einen Preis bekommt er trotzdem nicht. Nicht einmal einen so mickrigen wie unseren.

Das, geschätzter Gerrit Bartels, ist meine traurige Preisrealität.

Warum nicht ich?

Aber warum? Was stimmt denn nicht mit mir? Weshalb ignoriert mich die große Preisgießkanne? Habe ich das falsche Mittelinitial oder den falschen Vornamen? Tatsächlich heißen, wie die Süddeutsche Zeitung vor ein paar Jahren feststellte, männliche deutschsprachige Literaturpreisträger hauptsächlich Peter, Thomas, Michael, Jan und Martin, und eben nicht Christian Y. Liegt es daran, oder mache ich tatsächlich etwas falsch? Habe ich vielleicht in den vergangenen dreißig Jahren nicht deutlich genug gesagt, dass ich keine Literaturpreise annehme, weil ich das Preisverleihungs­wesen als solches ablehne? Das scheint nämlich eines der Patentrezepte zu sein, um extra viele Preise zu bekommen. Nehmen wir beispielsweise Peter Handke. Der wollte den Nobelpreis so lange abschaffen, bis er ihn bekommen hat. Oder auch ­Daniel Kehlmann, der – nachdem er ihn 2005 nicht erhalten hatte – die Abschaffung des Deutschen Buchpreises forderte. Er wurde nicht nur ein paar Jahre später offenbar gegen seinen Willen wieder für den gleichen Preis nominiert, sondern ihm wurde – trotz seines preisunwürdigen Vornamens! – bis heute eine Vielzahl weiterer Preise aufgezwungen.

Hätte ich zumindest immer mal wieder öffentlich verkünden müssen, dass mich Literaturpreise nicht interessieren, so wie es Christoph Ransmayr 2019 im Deutschlandfunk tat, »weil«, so Ransi, »die Art von Öffentlichkeit, in die jeder Mensch, der so einen Preis bekommt, katapultiert wird, mich eher bedrohen würde, mein Leben bedrohen …«? Auch das scheint eine gute Preiserheischungsmethode zu sein, denn eben diesem Ransmayer wurden – wenn ich richtig zähle – mindestens 32 Preise verliehen, die er trotz akuter Lebensgefahr auch angenommen hat.

Nützt es also was, hochwohlgeborener Herr Bartels, wenn ich hier noch einmal in aller Öffentlichkeit versichere, dass auch ich sehr lange insgeheim einen starken Widerwillen gegen das Annehmen von Literaturpreisen hatte und an ihnen kaum interessiert war? Nee, nützt nichts? Und was ist mit der Gießkanne?

Der richtige Rachen

Gut, okay, probiere ich es jetzt einfach andersherum, und versuche es nach Jahren der falschen Bescheidenheit einmal offensiver: Sind Sie, die Sie das hier lesen – nein, Herr Bartels, Sie sind gerade nicht gemeint, aber Sie können ja meine Bemühungen gerne in den einschlägigen Kreisen weiterverbreiten –, vielleicht zufällig in der Preisverleiherbranche tätig oder Mitglied einer Jury? Und sind Sie es leid, laufend an die gleichen Leute Preise zu verleihen, die sich dann auch noch als undankbar erweisen? Wenn Ransmayr und Co. nicht interessiert sind: Ab sofort bin ich es. Ich nehme jeden Preis an. Dabei ist mir egal, wer ihn gestiftet hat und welchen Namen der Preis trägt, es kommt eigentlich nur drauf an, dass er vernünftig hochdotiert ist. Das ist auch deshalb wichtig, damit keine anderen mehr die schönen Geldbeträge erhalten. Denn, wie schon Thomas Bernhard schrieb, als man ihm den Österreichischen Staatspreis verpasste: »Nehme ich das Geld nicht für mich … wird es einer Niete in den Rachen geworfen, die nur Unheil anrichtet mit ihren Erzeugnissen und die Luft verpestet.«

Und auch wenn ich hier den Kollegen Bernhard zitiere, garantiere ich Ihnen, dass es bei der Preisverleihung keinen Bernhardschen Affront geben wird. Ich bin ein pflegeleichter Preisträger, der bei der ­Überreichung des Preises einen gut geschnittenen Anzug tragen wird und sich auch nicht hinterher über die Geschmacklosigkeit der Preisurkunde beschwert. Man kann mich auch ruhig en passant in die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung aufnehmen. Ich schwöre: Ich trete danach nicht wieder aus. Ich werde mich auch dann nicht beschweren, wenn das Preisgeld von üblen Ausbeutern stammt, oder der Namensgeber bzw. Stifter des Preises ein paar dunkle Flecken in seiner Bio hat – so wie etwa Henri Nannen (SS-Standarte Kurt Eggers), Günter Grass (Waffen-SS) oder Klaus-Michael Kühne (HSV-Investor). Ich nehme ohne zu murren alles an, dafür legt auch der soignierte Herr hier neben mir, der Herr Bartels, seine Hand ins Feuer.

Ich verspreche auch, dass ich in meiner feinziselierten Dankesrede nur loben werde: den Preis, den Namensgeber, den Stifter, das Ambiente. Ich werde Henri Nannen zu einem glühenden Antifaschisten umpinseln und aus Günter Wallraff einen Autor machen, der seine Bücher selbst geschrieben hat. Auch das Kaff, in dem der Preis verliehen wird, wird in meiner Rede in eine bedeutende Kulturmetropole verwandelt, selbst wenn es sich um Pirmasens (Hugo-Ball-Preis), Gelnhausen (Grimmelshausen) oder Seligenstadt (Einhard-Preis, mon amour) handeln sollte.

Um aber meine jahrzehntelange radikale Preisdiät zu kompensieren, sollte es am besten gleich einer der großen und vor allem hochdotierten Preise für mich sein. Also so was wie der Bertolt-Brecht-Preis (15.000 Euro), der Preis der Leipziger Buchmesse (20.000 Euro), der Frank-Schirrmacher-Preis (20.000 Schweizer Franken) oder der Thomas-Mann-Preis (25.000 Euro); eben das, was auch die Kollegen Ransmayr oder Kehlmann immer gerne nehmen oder neuerdings halt Sasa Stanisic, Sibylle Lewitscharoff bzw. Berg. Es darf aber auch der Georg-Büchner- (50.000 Euro) oder der Joseph-Breitbach-Preis (dito) sein.

Gießkanne raus!

Nur würde ich Sie, meine Damen und Herren Juroren, doch bitten, sich mit der Preisvergabe an mich zu beeilen. Ich gehe im übernächsten November in Rente, und die wird nicht gerade großzügig bemessen sein (rund 500 Euro pro Monat). Da sollte Ihr Preis jetzt aber wirklich langsam kommen. Ich habe ihn auf das Wort von Herrn Gerrit Breisversprecher…, äh, Bartels hin schon eingepreist bei meiner Altersvorsorge.

Sollte aber bis zum genannten Datum immer noch kein Preis bei mir eingetrudelt sein, dann, hochmögender Herr Bartels, werde ich mich leider gezwungen sehen, Sie zu verklagen. Nur Sie wussten von der großen Preisgießkanne, also haben Sie sie auch verschwinden lassen. Es wird höchste Zeit, dass Sie sie wieder herausrücken.

Christian Y. Schmidt ist Schriftsteller. Zuletzt veröffentlichte er den Roman »Der letzte ­Huelsenbeck« (2019), die Erzählung »Der kleine Herr Tod« (2020) und den Bericht »Corona ­Updates Beijing« (2021).

Gerrit Bartels ist Literaturredakteur des Tagesspiegel.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/401696