16.12.2020 / Feuilleton / Seite 1 (Beilage)

In Zeiten wie diesen

Reisen in der Pandemie stellt sowohl Erholungsuchende wie auch vom Tourismus lebende Gemeinden vor neue Herausforderungen

Ina Sembdner

In Zeiten einer weltweiten Gesundheitskrise ist es kein leichtes Unterfangen, eine Beilage zum Thema Reisen mit angemessenem Inhalt zu füllen. Auch für vergleichsweise privilegierte Menschen, die in der Lage sind, dem Alltag auf diese Weise zu entfliehen, war dies im Jahr 2020 nicht möglich bzw. nicht geboten. Die Lobbyisten der (Massen-)Tourismusbranche taten dennoch alles dafür, mit Sondergenehmigungen ein Ausnahmerecht auf Reisen westlicher Erholungsuchender durchzudrücken. Zuletzt zeigte sich dieses bizarre Ringen um Privilegien im Streit um die Öffnung der Skigebiete in den Alpen. Anfang des Jahres mit dem österreichischen Bergort Ischgl einer der Ausgangsorte für die Ausbreitung der Pandemie in Europa, ist die EU daran gescheitert, eine einheitliche Regelung bzw. ein Verbot durchzusetzen. Österreich verbat sich gar eine Einmischung, und die eidgenössische Nachbarrepublik lässt in einer Werbekampagne vernehmen: »Die Schweiz fährt Ski. Aber sicher!« Wieder einmal hat der Primat des Wirtschaftlichen über die Gesundheit gesiegt.

Ähnlich wichtig war der Tourismus für die peruanische Andenregion Cusco mit ihrem berühmtesten Erbe, der Inka-Stadt Machu Picchu. Die Antwort der dort von den Reiseeinnahmen Lebenden ist jedoch eine andere. Das Projekt »La ruta del retorno« von Víctor Zea und Sharon Castellanos begleitet in Text und Bildern in dieser Beilage die Rückkehr vieler in die Landwirtschaft, um das eigene Überleben zu sichern. Aber nicht nur: Das erzwungene Innehalten durch fehlende Touristenströme hat zu einem radikalen Umdenken geführt, denn nicht Geld, sondern »ein Hof bedeutet Leben« – Arbeit im traditionellen Sinne des »heute für dich, morgen für mich« führt die Menschen zu einer Gemeinschaft zusammen.

In der sozialistischen Inselrepublik Kuba ist die Lage etwas anders. 86 Prozent der Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft gehen auf den staatlichen Sektor zurück, der Wirtschaftszweig stellt somit auch ein Mittel zum Kampf gegen die seit 60 Jahren andauernde US-Blockade dar. Mit seinem gut ausgestatteten Gesundheitssystem konnte Kuba das Coronavirus nicht nur im Land selbst in Grenzen halten, sondern kämpfte mit der Entsendung der Henry-Reeve-Brigade auch in zahlreichen anderen Teilen der Welt gegen die Pandemie. Theoretisch ließe sich also die »neue Realität« auf der größten Antilleninsel genießen, wenn denn westliche Regierungen nicht so kläglich am Coronavirus gescheitert wären.

Pandemiekonform haben sich drei Redakteure der jungen Welt auf den Fahrradsattel geschwungen, um mit eigener Kraft das Naheliegende zu erkunden. Jörg Tiedjen begab sich dazu auf die Spuren Martin Luthers und seines revolutionären Kontrahenten Thomas Müntzer. Und nicht nur auf der Wartburg fand sich das »Nebeneinander von Kultur und Barbarei«. Frederic Schnatter gab sich als Ziel die Quelle der Spree, folgte ihrem Lauf durch den Spreewald und die Oberlausitz und landete bis auf die Knochen durchnässt im »Küstriner Wappen«, dem Ort, an dem schon Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck einkehrten. Ein weiterer Artikel erkundet Brandenburger Weiten und nachdenklich stimmende Orte in Niedersachsen mit Hilfe eines wegweisenden kleinen grünen Fahrrads und der solidarischen Gastfreundschaft jener, die ein Stückchen Land ihr eigen nennen und Raum für ein Zelt bieten.

Der nordirischen Hauptstadt Belfast gilt die Reiseliebe von Maximilian Schäffer. Seine alljährliche Tour dorthin konnte aus bekannten Gründen nicht stattfinden, und so erzählt der Autor im Rückblick von diesem »Lummerland der europäischen Geschichte«, wo Verschwiegenheit »auch nach dem Karfreitagsabkommen und dem vierzehnten Guinness« anerzogene Pflicht ist.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/392486