14.10.2020 / Feuilleton / Seite 1 (Beilage)

Sie ist erpressbar

»Grundlagenforschung«: Anke Stelling erkundet in ihrem neuen Erzählband die Schrecken des Alltäglichen

Katharina Bendixen

Eine Frau sitzt auf dem Ferienhof in der Eifel, wacht über die schlafenden Kinder Lukas und Elias und wartet. Wartet auf Frank, der nur kurz mit dem Auto losgefahren ist, um eine passende Badestelle am Fluss zu finden: »Die Kinder sollen morgen Staudämme und Rindenschiffchen bauen.« Wo bleibt er nur? Ist ihm vielleicht etwas zugestoßen? Während die Frau wartet, beobachtet sie die Bauersleute draußen vor dem Fenster. Deren tägliche Handgriffe, die Vorbereitungen für das Abendessen mit den erwachsenen Kindern. Und zwischendurch immer wieder diese kleinen Sätze, die den Lesenden plötzlich den Boden wegziehen: »Bauer Pohl würde Gundi niemals allein lassen.« Oder: »Frank fährt jedes Jahr eine Woche alleine nach Amrum.« Oder: »Frank hat Elias nicht gewollt.«

»Schlimmstenfalls« heißt die Erzählung, die ebenso elegant wie grausam vermittelt, dass hier ein Leben in geordneten Bahnen verläuft und etwas doch ganz und gar nicht in Ordnung ist. Dieses Unbehagen mit den scheinbar erstrebenswerten Lebensumständen, dieses Gefühl einer existentiellen Not inmitten der Normalität vermittelt sich auf immer neue Weise in den 14 Erzählungen in Anke Stellings neuem Buch »Grundlagenforschung«. Da sind die drei kinderlosen Paare in der Erzählung »Bei den Wölfen«, die im Ferienhaus vor dem Kamin sitzen und einander überbieten in ihrer Abgeklärtheit und Unabhängigkeit. Und die dennoch mehrmals auf ein trauriges Opfer zu sprechen kommen – einen dreijährigen Jungen, der in diesem Ferienhaus in den Kamin fiel: »Er hatte dummerweise eine Polyesterjacke an, die geschmolzen ist und nicht mehr runter ging.« Da sind auch Franziska und Varut mit ihren zwei wilden Kindern in »Raus«, der vielleicht stärksten Erzählung im Band. Varut findet, dass Kinder laut und aggressiv sein müssen, dass Franziska sich der Angepasstheit ihrer Eltern untergeordnet hat und dass sich ein Gespräch über seine eigene Herkunft verbietet. In dieser Erzählung sind es Franziskas Freundinnen, die ihr ganz direkt den Boden unter den Füßen wegziehen: »Wenn Franziska uns erzählt, was Varut gesagt hat, trösten wir sie, empören uns mit ihr, bestätigen auch ihre Einschätzung, dass er vermutlich gar nicht anders kann, sie nicht freiwillig manipuliert. Rufen sie dennoch zum Widerstand auf. Verstehen aber auch, dass das schwer ist. Sie liebt ihn! Sie ist unsicher. Sie ist erpressbar.«

Die Erzählungen in »Grundlagenforschung« stammen aus den vergangenen 20 Jahren, die meisten sind bereits an verschiedenen Stellen publiziert und für die Neuveröffentlichung überarbeitet worden. Zwischen zwei Buchdeckeln versammelt zeigen sie, wie eine Autorin sich im Laufe der Jahre dem Kern ihres Fragens, ihres Forschens, ihres Suchens – kurz: ihres Erzählens immer weiter nähert. Die formalen Experimente mancher frühen Texte – manchmal allzu allwissende Erzähler oder allzu strenge Kompositionen – werden bald abgelöst durch eine menschliche Klugheit, die in ihrer Konzentration und Tiefe keiner Spielereien mehr bedarf. Es ist erstaunlich, wie nahe die Themen und der Tonfall von frühen Texten bereits den späteren Romanen »Bodentiefe Fenster« (2015) und »Schäfchen im Trocknen« (2018) sind. Genau wie ihre Romane sind Stellings Erzählungen immer dann am stärksten, wenn ihre Figuren in festen Gefügen leben und sich dennoch völlig unverbunden fühlen. Ihre Figuren geben sich die größte Mühe, alles richtig zu machen, und scheitern doch an der Individualgesellschaft, die verbindliche Gemeinschaften, ja selbst die Verbindlichkeit der Familie negiert. Es gibt kein Aufgehobensein, auch nicht für die Erzählerin in »Schlimmstenfalls«, die die ganze Nacht auf Frank wartet. Natürlich ist Frank nichts zugestoßen. Das Erschreckende ist, dass er unversehrt zurückkehrt. Erschreckend ist, dass der Alltag genauso weitergeht wie zuvor.

Anke Stelling: Grundlagenforschung. Erzählungen. Verbrecher-Verlag, Berlin 2020, 192 Seiten, 20 Euro

https://www.jungewelt.de/beilage/art/387299