26.02.2020 / Ausland / Seite 1 (Beilage)

Das neue Unbehagen

Der Westen macht Kräfte frei für die Konfrontation mit Russland und China. Das hat Auswirkungen auf den Nahen Osten

Matthias István Köhler

Ein »weitverbreitetes Gefühl des Unbehagens und der Rastlosigkeit angesichts wachsender Unsicherheit über die Zukunft und Bestimmung des Westens« mache der Menschheit derzeit zu schaffen. So die Diagnose der Veranstalter der diesjährigen »Sicherheitskonferenz« in München auf ihrer Website. Einen Namen für dieses »Gefühl« haben sie auch gefunden: »Westlessness« (Westlosigkeit). Auf Englisch, dadurch wirkt ihre Überzeugung international beglaubigt: »Ohne deutsches Wesen kann die Welt nicht genesen.«

Und während die Veranstalter, noch scheinbar die neue Bedeutungslosigkeit des Westens bezeugend, verlauten ließen, es sei unklar, inwieweit man »eine Strategie und gemeinsame Antwort auf eine sich abzeichnende Ära der Großmacht­rivalität finden wird«, wollte man außerhalb der Konferenzsäle des »Bayerischen Hofes« dann doch lieber keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass der imperialistische Expansionsdrang lebendig ist wie nie zuvor: Mit »Defender Europe 2020« probt das Kriegsbündnis NATO derzeit schon mal die Verlegung von 20.000 Soldaten aus den USA nach Osteuropa und feiert ihr größtes Manöver der vergangenen 25 Jahre.

Aber der neue Aufmarsch gegen Russland bindet Kräfte. Und all das ist erst der Anfang, denn der Hauptfeind, den NATO und an ihrer Spitze Washington sich für ihre längerfristigen Kriegsszenarien auserkoren haben, ist noch einmal von einer anderen Gewichtsklasse: die Volksrepublik China. Auch vor diesem Hintergrund der Verschiebungen im globalen Kräfteverhältnis widmet sich diese Beilage den neuesten Entwicklungen im Nahen Osten.

Denn: Es »tobten Feind und Freund«, schreibt Jörg Kronauer in seinem Beitrag, als Präsident Donald Trump im Oktober vergangenen Jahres den Abzug der US-Truppen aus Nordsyrien ankündigte – und damit die Konsequenzen aus den Planspielen der vergangenen Jahre und der angenommenen neuen Bedrohungslage zog. Nur, ganz so einfach ist das mit dem Truppenabzug nicht: Wie können die US-Interessen in der Region weiter gesichert werden? Was ist mit den Rohstoffvorräten am Persischen Golf? Und was ist mit dem Verbündeten Israel?

Seit Jahren hatte Trump einen »Nahostfriedensplan« angekündigt – er nannte ihn den »Deal des Jahrhunderts«. Ende Januar wurde er veröffentlicht. »Mit dem ›Frieden zu Wohlstand‹ genannten Plan stellt die Trump-Administration der israelischen Regierung einen Freibrief zur Annexion palästinensischen Landes aus«, schreibt Wiebke Diehl in ihrem Beitrag. Unerwartet geschah dies alles nicht. Diehl zeichnet nach, in welchem Zusammenhang der Ausverkauf palästinensischer Rechte mit den Osloer Abkommen der neunziger Jahre steht.

Benjamin Gantz oder Benjamin Netanjahu? Anfang März wird in Israel zum dritten Mal innerhalb von weniger als einem Jahr gewählt. Knut Mellenthin beschreibt in seinem Artikel die Pattsituation in dem Land und warum es so schwer ist, eine politische Mehrheit zu finden.

Ein NATO-Mitglied befindet sich im Nahen Osten derzeit in konkreten Rückzugsgefechten. Nick Brauns kommt in seinem Beitrag zu dem Schluss, dass die neoosmanischen Träume von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der Türkei zu einer Vormachtstellung in der überwiegend arabisch geprägten Region zu verhelfen, geplatzt sind. Gleichzeitig wird deutlich, dass Ankara seine außenpolitischen Ambitionen verlagert hat: ins östliche Mittelmeer und nach Nordafrika.

Karin Leukefeld betrachtet zum Abschluss die gegenwärtige Lage in Syrien nach dem teilweisen US-Truppenabzug und zeigt, wie und warum die Partner im Krieg gegen Damaskus zerstritten sind. In ihrem Beitrag gibt sie auch einen Ausblick darauf, wie es nun weitergeht, nachdem konstatiert werden kann, dass die Regime-Change-Pläne des Westens gescheitert sind, die syrische Armee die von Dschihadisten besetzten Gebiete zurückerobert und Damaskus immer mehr die Kontrolle über das Land wiedergewinnt.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/372794