27.11.2019 / Inland / Seite 1 (Beilage)

Vielfalt als Stärke

Behinderte Menschen beteiligen sich weltweit an Demonstrationen für Klimaschutz

Michael Zander

»Unser Haus steht in Flammen!« Mit diesen Worten charakterisierte die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg in ihrer Rede vor der UNO am 23. September 2019 in New York die gegenwärtige ökologische Krise. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass diese Krise sich weiter verschärft«, kündigte die 16jährige Mitbegründerin der internationalen Schülerbewegung »Fridays for Future« an.

Thunberg lebt mit einer »Asperger«-Diagnose, also einer Form des Autismus, die sie gelegentlich scherzhaft als »Superkraft« bezeichnet. Im Interview mit Amy Goodman vom US-Nachrichtenmagazin Democracy Now erklärte sie, wie das »Asperger-Syndrom« ihre Wahrnehmung schärft. Wenn sie sich wirklich für etwas interessiere, dann könne sie stundenlang darüber lesen, ohne zu ermüden. Sie verstehe nicht die »Doppelmoral«, nach der Menschen gegen ihre Einsicht in die Gefährlichkeit des Klimawandels handelten. Für viele Betroffene sei »Asperger« allerdings kein »Geschenk«, weil sie nicht unter den richtigen Umständen lebten.

Menschen mit Behinderung sind Teil der Klimaschutzbewegung. Bei ihren Aktionen gegen Braunkohletagebaue in der Lausitz ab dem 29. November wird die Kampagne »Ende Gelände« einen sogenannten bunten Finger organisieren, also einen Protestzug für Menschen, die nicht kilometerweit laufen und Polizeiketten überwinden können. Gegenüber dem Nachrichtenportal Kobinet (12.11.2019) erklärte Andreas Lapp-Zens vom Vorbereitungsteam: »Bisher waren Menschen mit sichtbaren Behinderungen eher unterrepräsentiert bei politischen Aktionen und speziell Demonstrationen. Das hat sich verändert seit ›Fridays for Future‹ und ›Ende Gelände‹. Deren Aktionen spiegeln in immer stärkerem Maße die vielfältige Zusammensetzung der Gesellschaft wider.«

Der Zusammenhang zwischen Behinderung und Klimakrise gehört zu den Themen in dieser Beilage. Katrin List schreibt über die globale Erwärmung als Fluchtursache und über die mangelhafte Gesundheitsversorgung für behinderte Flüchtlinge. Schwächen des Katastrophenschutzes in der Bundesrepublik analysiert Friedrich Gabel. Der Autor dieses Editorials kritisiert den Entwurf des »Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetzes« (RISG) aus dem Bundesgesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU). Vor der Zulassung eines neuen Bluttests in der Pränataldiagnostik warnt Erika Feyerabend. Es folgen Buchbesprechungen von Rebecca Maskos, Volker van der Locht und Jan Steffens zu Kapitalismuskritik, Gewalt in Heimen und zur marxistischen Behindertenpädagogik Wolfgang Jantzens. Colin Barnes erinnert an den im März 2019 verstorbenen britischen Sozialwissenschaftler und Aktivisten Michael Oliver, der mit seinem »sozialen Modell« zwischen der Beeinträchtigung eines Menschen und den gesellschaftlich verursachten Behinderungen unterschied. Frédéric Valin erzählt die Geschichte des willensstarken Herrn Kuczinski, der seit einem Schlaganfall pflegebedürftig ist.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/367498