06.11.2019 / Geschichte / Seite 1 (Beilage)

Rauben, egal, was das kostet

Gegen die Bezeichnung Konterrevolution für die Ereignisse im Herbst 1989 wehren sich noch heute nicht wenige. Das Wesen der Entwicklung zeichnete sich aber ab

Arnold Schölzel

Es habe 1989/1990 keine Konterrevolution in der DDR gegeben, empörte sich jüngst in der jW-Ladengalerie ein Veranstaltungsbesucher. Immerhin sei durch Massendemonstrationen die Regierung gestürzt worden. Ob die tatsächlich die Ursache für den Wechsel waren, sei dahingestellt. Die These ist 30 Jahre alt und wurde schon damals mit dem Hinweis bestritten: Die reale Alternative zur DDR war der Imperialismus nebenan. Solche Einwände wurden weggefegt.

Subjektive Sicht der Akteure auf Geschichte und deren objektiver Ablauf sind stets zwei verschiedene Dinge. Fest steht: Die fast geräuschlose Beseitigung des sozialistischen Eigentums in der DDR und damit der Gesellschaftsordnung durch Helmut Kohl und seine Helfer war durch die selbstverschuldete, dann zielstrebig von innen und außen herbeigeführte Erosion der politischen Macht in der DDR vorbereitet. Es war bis hin in die Führung der SED üblich geworden, so zu tun, als sei die Existenz der DDR nicht Ausdruck eines weltweiten Klassenkampfes, als sei sie keine Gegengesellschaft und kein Gegenstaat zur BRD. Zumal, was den meisten Zeitgenossen damals kaum auffiel, Michail Gorbatschow Klassenkampf für überholt hielt, um es zurückhaltend auszudrücken, und ausreichend Gefolgsleute in der DDR hatte.

Wer die DDR demokratisieren wollte, aber von den Produktionsverhältnissen, vom sozialistischen Eigentum schwieg, war mindestens naiv. Es war kein Zufall, dass unter den Organisatoren der Kundgebung am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz keine Industriearbeiter waren. Sie blieben auch später weitgehend passiv. Der politische und ideologische Boden war jedenfalls bereitet, als Helmut Kohl und das bundesdeutsche Großkapital nach dem 9. November 1989 blitzartig handelten. 13 Tage nach diesem Datum lag im Zentralbankrat der Bundesbank ein Papier mit Überlegungen für eine Währungsreform in der DDR vor. Das war möglich, weil die Annexionspläne seit Jahrzehnten bereit lagen. Wer das hatte wissen wollen, konnte es wissen. Die Entwicklung der »ökonomischen Atombombe« Währungsunion, wie es der britische Guardian 1991 formulierte, hatte begonnen. Gezündet wurde sie aus politischen Gründen.

Der Rest ist bekannt. Die materielle Basis der DDR-Gesellschaft wurde beseitigt. Der Vandalismus machte vor Literatur, Kunst, Theater, Film, Musik, Kulturhäusern und Bibliotheken nicht halt, begleitet von einem bis heute andauernden medialen Hassausbruch und personellen Säuberungen in Dimensionen, die es 1918, 1933 oder 1945 nicht gegeben hatte.

Der Auftrag lautete: Privatisieren im Sinne der lateinischen Vokabel – Rauben, egal, was das kostet. Dafür schuf Bonn mit Treuhand und »Rückgabe vor Entschädigung« bei Immobilien rechtsförmiges Unrecht, das nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 der DDR-Regierung diktiert wurde. Die Treuhand beseitigte etwa vier Millionen Arbeitsplätze in der DDR, während in der BRD zwei Millionen neue entstanden. Die »Rückgabe« von Häusern, Wohnungen, Wochenendgrundstücken usw., die zu 97 Prozent von Erben in zweiter oder dritter Linie gefordert wurde, betraf geschätzt acht Millionen Menschen in der DDR, also fast die halbe Bevölkerung.

Diese Konterrevolution hat ihr Maß in der Zahl der geplünderten, zerlegten und »abgewickelten« Betriebe. Sie hatte keinen Rechtsboden, tut aber bis heute so. Sie trug kolonialen Charakter und machte die »Eingeborenen« zu Menschen dritter oder vierter Klasse. Nirgendwo hat es ohne Krieg eine Vernichtung von Produktivvermögen, von Wissen und Fähigkeiten in dieser Dimension gegeben. Und sie hat globale Folgen. »Diese Grenze musste aufgehoben werden, damit wir gemeinsam in den Krieg ziehen«, heißt es auf dem 50-Meter-Transparent der Initiative »Unentdecktes Land«. Das ist das Wesen der Sache.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/365626