05.10.2019 / Geschichte / Seite 1 (Beilage)

»Es ging um eine lebendigere sozialistische Demokratie«

Ein Gespräch mit Ekkehard Lieberam. Über Diskussionen unter Staats- und Rechtswissenschaftlern der DDR, das Demokratiekonzept Walter Ulbrichts und Erlebnisse in Leipzig 1989

Arnold Schölzel

Sie arbeiteten 1989 als Professor am Institut für Internationale Studien der Karl-Marx-Universität Leipzig. Wie haben Sie die Montagsde­monstrationen wahrgenommen?

Sie waren eindruckvoll. Sie veränderten rasch das politische Kräfteverhältnis in der Stadt. Ich war sehr für den Versuch regionaler SED-Politiker, mit Vertretern der Montagsdemonstranten ins Gespräch zu kommen und zugleich gegen die Großdemonstrationen etwas Linkes aufzubauen. Nach der Wahl von Roland Wötzel zum 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung am 5. November 1989 gab es am 11. November eine Kundgebung zur Verteidigung der DDR vor dem Dimitroff-Museum, dem Gebäude des früheren Reichsgerichts und heutigen Bundesverwaltungsgerichts. Es sprach Roland Wötzel. Er war einer der Leipziger Sechs, die sich vor der Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 mit einem Aufruf zur Gewaltlosigkeit, der vom Dirigenten des Gewandhausorchesters Kurt Masur im Stadtfunk verlesen wurde, an die Öffentlichkeit wandten. Die Schätzungen zur Zahl der Kundgebungsteilnehmer vor dem Museum schwanken zwischen 6.000 und 25.000 Menschen. Diese Manifestation war nicht bedeutungslos, aber doch nur ein spätes Rückzugsgefecht. Es war klar: Die Massen stehen hinter dem Aufbruch der Montagsdemonstrationen für eine bessere DDR. Vieles in der DDR ging den Leuten auf den Wecker: das bloße Zettelfalten an den Wahltagen, die offenkundigen Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai, die Sprachlosigkeit der SED-Führung.

Die Montagsdemonstrationen waren zunächst ein Aufbruch zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der spätere Verlauf entsprach dann dem, was Karl Marx am 6. Dezember 1848 schrieb: Der »halben Revolution« folgte eine »ganze Kontrerevolution«. Der gravierende Unterschied war: 1848 hätten die Volksmassen durchaus siegen können, den politischen Kräfteverhältnissen nach. 1989/1990 war das grundlegend anders. Die politische Richtung gaben alsbald nicht mehr die Bürgerrechtler an, sondern die Politiker, Banken und Konzerne der BRD.

Wie entwickelten sich die politischen Verhältnisse 1989 und 1990 weiter?

Sie kamen rasch ins Rutschen. Das war schon im Februar 1990 deutlich sichtbar; erste Anzeichen dafür aber gab es bereits im Dezember 1989, als die verfassungsrechtlich fixierte führende Rolle der Partei in der Volkskammer beseitigt wurde. Im Februar entzog die Sowjetunion der DDR ihren Schutz. Der Rest war unausweichlich.

Woran ist der reale Sozialismus in Europa gescheitert?

Das ist ein großes und nach wie vor wichtiges Thema. Es gibt von links dafür zwei grundverschiedene Erklärungen. Die einen sagen: Das war der Revisionismus in den Partei- und Staatsführungen. Die anderen, zu denen auch ich gehöre, meinen und belegen das: Die eigentliche Ursache war, dass der Sozialismus den Systemwettbewerb mit dem Kapitalismus in den achtziger Jahren ökonomisch verloren hatte. Dies war politisch nicht mehr zu kompensieren. Aus verschiedenen Gründen – zu denen auch die Hilflosigkeit der politischen Führung zählte – wurde das in der DDR 1989 virulent. Es hatte sich eine politisch tragische Situation entwickelt. Der 2011 verstorbene DDR-Rechtswissenschaftler Uwe-Jens Heuer hatte das in die Worte gefasst: Wenn das Notwendige – ökonomische und demokratische Reformen der DDR – nicht mehr möglich ist, dann wird es tragisch. Für die damaligen politischen Akteure war das nur schwer durchschaubar.

Heuer und ich hatten bis 1986 zusammen als Bereichsleiter am Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften in Berlin gearbeitet, und unsere Auffassungen waren sehr ähnlich. Unsere Diskussionen über den Sozialismus haben wir nach 1990 fortgesetzt. Er war dann PDS-Bundestagsabgeordneter und verantwortlich für Rechtspolitik. Ich war der Mitarbeiter der Gruppe PDS/Linke Liste für diesen Politikbereich. 1992 wurde ein neues Parteiprogramm erarbeitet, das Anfang 1993 verabschiedet wurde. Der Entwurf des Abschnitts über das Scheitern des Sozialismus ging dann vollständig in den Programmentwurf der Kommunistischen Plattform (anerkannte Strömung innerhalb der PDS bzw. Linkspartei, jW) ein. Aber auch in den offiziellen Programmtext von 1993 wurde unsere Position zum Teil übernommen. Diese war: Der Kampf um eine sozialistische Alternative in der DDR war berechtigt. Und er war ein »Sozialismusversuch«. Die Erfolge dabei sind »Kraftquell« in den kommenden Klassenauseinandersetzungen. Das wurde im Parteiprogramm dann abgeschwächt. Es blieb aber bei dem Begriff des »Sozialismusversuchs«.

Woher kam dieser Begriff?

Er entstand 1992 in den Diskussionen der Gruppe um Uwe-Jens Heuer, die sich mit der Ausarbeitung des entsprechenden Abschnitts im Parteiprogramm beschäftigte, zu der auch ich gehörte. In einer Vorlage, in deren Besitz ich noch bin, schlug Heuer ihn vor. Der Begriff des Sozialismusversuchs wende sich gegen diejenigen, die den Sozialismus der DDR in den eigenen Reihen als »Stalinismus« diffamieren und gegen die Herrschenden, die ihn als »Unrechtsregime« beschimpfen. Heute bin ich über diesen Begriff nicht allzu glücklich, weil es natürlich mehr als ein bloßer »Versuch« war. Sozialismusanlauf wäre z. B. besser gewesen.

Aber dennoch war dieser Begriff tauglich im Kampf gegen Konterrevolution und gegen abwegige Vorstellungen in den eigenen Reihen. Auf dieser Grundlage wandte sich Heuer im Bundestag gegen den anlaufenden Rachefeldzug mit Hilfe von Treuhand, Straf- und Zivilrecht. Der Begriff Sozialismusversuch ist eine Abgrenzung von Ansichten, wonach es sich beim realen Sozialismus um nichts Positives gehandelt habe oder sogar um schlimmen »Stalinismus«. Insofern waren Heuer und ich in einem Boot.

Aus dieser Haltung heraus hatte er auch den Kampf gegen die Konterrevolution in der DDR aufgenommen und setzte ihn dann gegen die Deindustrialisierung und den Rachefeldzug mit Hilfe des Straf- und des Zivilrechts fort. Unbeugsam hat er im Bundestag auf dieser Grundlage die DDR und die Interessen der Ostdeutschen verteidigt.

Zurück in die 80er Jahre und zu Ihren damaligen Debatten als Staats- und Rechtswissenschaftler. Gab es einen Punkt, an dem Sie der Meinung waren: Das und das muss dringend im DDR-Rechtssystem geändert werden?

Es gab zahlreiche Debatten über die Bedeutung einer eigenständigen Demokratiediskussion, über eine stärkere Rolle der subjektiven Rechte in der Gesetzgebung und im politischen Prozess, über den im Sozialismus gegebenen Widerspruch zwischen Staat und Volksmassen. Ich habe dabei allerdings nie die Auffassung gehört: Wir schaffen die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei ab. Es ging vielmehr um eine lebendigere sozialistische Demokratie – auch in der Partei. Das schloss ein dialektisches Verständnis der Zusammenhänge zwischen dem Staat, der Ökonomie, der Macht und der Demokratie ein. Vor allem die theoretischen Positionen von Uwe-Jens Heuer spielten dabei eine maßgebliche Rolle.

Das begann nach meiner Erinnerung auf einer Konferenz von DDR-Rechtswissenschaftlern im September 1977 zum 60. Jahrestag von Lenins »Staat und Revolution« am Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Die Tagung verlief zunächst in der üblichen Art und Weise: Würdigung der Arbeit Lenins, Nachweis, dass der Staat in der DDR sich entsprechend seinen Hinweisen entwickelt habe, Begründung für Abweichungen davon mit den geschichtlichen Umständen. Dann trat Heuer ans Mikrofon und erklärte das alles für nicht überzeugend. Die Geschichte sei anders verlaufen. Das Kommunemodell von Marx und Lenin habe sich nicht bestätigt. Stalins Konzeption von den staatlichen und politischen Institutionen als »Transmissionen« habe sich als Irrweg erwiesen. Notwendig sei eine neue Staats- und Demokratiekonzeption für den Sozialismus. Leider habe ich in meinen Unterlagen kein Protokoll dieser Konferenz mehr gefunden, und von deren Teilnehmern lebt kaum noch jemand. Im folgenden Jahrzehnt hat Heuer seine Positionen dann präzisiert. Höhepunkt waren dabei seine Thesen zur Demokratie vom Dezember 1987, die kürzlich mit einem Vorwort von Herbert Münchow und mir im Essener »Neue Impulse«-Verlag in der Reihe »MASCH-Skripte« herausgegeben wurden.

Wenn ich Heuer in dieser Frage richtig verstanden habe, ging es ihm um die Auffassung im historischen Materialismus, der Staat sterbe im Sozialismus und Kommunismus ab. Er bezweifelte diese These?

Genau. Diese Diskussion ist ja auch heute wieder aktuell. Heuer vertrat schon in der DDR die Auffassung, dass wir die Staatsfrage nach den Erfahrungen der Sozialismusgestaltung neu einschätzen müssen und es eine einfache »Rückkehr« zum »Kommunestaat« nicht geben könne. Die Erwartungen vom Sozialismus als einer kurzen Übergangsperiode ohne Geld und mit einem absterbenden Staat haben sich nicht bestätigt. Der Staat sei im Sozialismus nicht »wünschenswert, aber notwendig«. Der Eigentümerstaat drohe den Kommunestaat »zu sprengen«. Daraus folge ein grundlegender Widerspruch zwischen Staat und Volksmassen. Die Demokratiefrage werde zu einer wichtigen eigenständigen Frage sozialistischer Gesellschaftsgestaltung im Zusammenhang mit der Macht- und Eigentumsfrage. Unabdingbar werde es, einen eigenen allgemeinen Demokratiebegriff zu entwickeln. Dies habe nichts mit der berechtigten Ablehnung einer »reinen Demokratie« zu tun. Es gehe vielmehr um einen Begriff, der als Maßstab für Demokratiewirklichkeit dienen könne. Bereits 1986 definierte er diesen Begriff als individuelle und kollektive Selbstbestimmung über die eigenen Angelegenheiten im Rahmen der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Wir brauchen Schutz vor Bürokratie und im Einzelfall auch vor dem Staat. Wir brauchen ein besseres System der Interessenabstimmung im staatlichen Willensbildungsprozess.

Walter Ulbricht hat dies in den 60er Jahren in seinem Demokratiekonzept ähnlich gesehen. Er machte den Staatsrat – und nicht das Politbüro – zur Clearingstelle der Staatspolitik. Er trieb mit seinem Konzept des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, NÖS, auch gerade den Vergesellschaftungsprozess des sozialistischen Eigentums und die Entwicklung der Demokratie in den Betrieben und Gemeinschaften voran.

Wie setzte sich diese Diskussion in den 80er Jahren fort?

Sie setzte sich vor allem fort als Debatte über die Unzulänglichkeiten der Demokratie in der Wirklichkeit. Zugleich aber auch als Debatte über ein besseres Konzept der Machtsicherung. Ich habe damals zusammen mit der Juristin Rosemarie Will ein Büchlein geschrieben, das den harmlosen Titel »Zum marxistischen Staatsbegriff« trug. Es ist nicht erschienen, weil dann die sogenannte Wende kam. Es ging aber um dieses Thema: die sozialistische Demokratie entwickeln und zugleich, aber auch dadurch die Macht wirksamer sichern.

Heute würde ich sagen, dass unser Verständnis der ökonomischen Situation dabei unzureichend war. Im Systemwettbewerb ging es in erster Linie um die Wirtschaft. Stellt man die Demokratiefrage im Sozialismus in den Vordergrund, ohne die wirtschaftlichen Grundlagen zu berücksichtigen, dann besteht die Gefahr, zumal in einer Zeit politischer Instabilität, dass die Macht schnell erodiert.

Uwe-Jens Heuer und ich waren zum Beispiel von Michail Gorbatschow, als er 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde, zunächst begeistert. Wir waren dann aber alsbald enttäuscht, als wir merkten, dass er auf dem Gebiet der Ökonomie ein Dilettant war. Im Sozialismus gewinnt die Qualität von Politik eine neue, größere Bedeutung als im Kapitalismus. Wenn sich die führenden Politiker als Dilettanten erweisen, wird es schlimm, zumal, wenn die innerparteiliche Demokratie versagt. Gorbatschow scheiterte. Erich Honecker war offenkundig politisch überfordert.

Wann begann diese Entwicklung?

Sie begann mit dem Sturz Walter Ulbrichts und der Abkehr in der strategischen Orientierung der Partei vom Kampf um ein ökonomisches System des Sozialismus, das dem Kapitalismus überlegen ist. Es gab nach 1917, nach dem Ausbruch der Sowjetunion aus dem kapitalistischen Weltsystem, Geschichtsabschnitte, »Zeitfenster«, wie Heuer sie nannte, in denen der Systemwettbewerb zugunsten des Sozialismus hätte entschieden werden können. Alles hing offenbar von einem Kurs der sozialistischen Länder ab, Lenins Ratschlag zu befolgen, dass beim Wettbewerb mit dem Kapitalismus letztlich die Überlegenheit auf dem Gebiet der Arbeitsproduktivität entscheidet. Heute bestätigt sich das ja mit der Erfolgsstory der Volksrepublik China. Auch für Ulbricht und sein NÖS war das eine unabdingbare Voraussetzung einer erfolgreichen Sozialismusgestaltung unter den Bedingungen der Systemauseinandersetzung. Zweifellos hätte das Risiken anderer Art gebracht, aber nur dieser Weg versprach Erfolg. Aber das Wirtschaftssystem der sozialistischen Länder war zu ineffektiv. Dem Bamberger Wirtschaftshistoriker Oskar Schwarzer zufolge (»Sozialistische Zentralplanwirtschaft«, Stuttgart 1999, jW) schwankte der Anteil der Länder des RGW (der 1949 gegründete »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe«, jW) am Welthandel zwischen 1960 und 1980, den entscheidenden Jahrzehnten der Systemauseinandersetzung, um die acht Prozent. Das bedeutete Stagnation. Von Aufholen konnte keine Rede sein. Wir kamen wirtschaftlich nicht ausreichend voran. Hinzu trat der enorme Anteil der Rüstung an der Wirtschaftsleistung. Er belief sich in der UdSSR auf 20 bis 30 Prozent; manche sprechen sogar von bis zu 35 Prozent. Das hatte verheerende Folgen. Der Anteil der Volksrepublik China am Welthandel liegt übrigens heute schon bei mehr als 19 Prozent.

Zu einem ganz anderen Bereich: Warum gab es keine Verwaltungsgerichte in der DDR?

Am Ende der DDR gab es sie. Es hat lange gedauert, unter anderem weil von der politischen Führung gerade auch unter Walter Ulbricht, die Bedeutung des Rechtsweges, um zu seinem Recht zu kommen, arg unterschätzt wurde. Generell ging es um möglichst wirksame Kommunikation zwischen dem sozialistischen Staat und den Volksmassen, um einen möglichst wirksamen sozialistischen Konfliktregulierungsmechanismus. Da war das Eingabenrecht sicherlich wichtiger als Verwaltungsgerichte. Aber Verwaltungsgerichte waren dennoch notwendig, wenn der Konflikt zwischen Staat und Bürgern nicht anders zu lösen war.

Die Eingaben an Behörden, Parteien, Zeitungen oder Massenorganisationen waren eine Idee Ulbrichts?

Das gab es in der DDR von Anfang an und hatte sich aus dem Petitionsrecht entwickelt. Aber Ulbricht hat als Staatsratsvorsitzender daraus ein Gesetz mit zahlreichen Rechten der Bürgerinnen und Bürger und Pflichten der staatlichen Organe gemacht: den Eingabenerlass des Staatsrates vom 27. Februar 1961.

Ulbricht orientierte darauf, mit strengen Regeln gegen Bürokratismus und Herzlosigkeit vorzugehen und dabei die Sorgen und Nöte der Menschen in den Mittelpunkt des staatlichen Handelns zu stellen. Er hat den Umgang mit den Eingaben ins Zentrum seiner Demokratiekonzeption gerückt. Die Folge war eine wirksame Verbesserung der Kommunikation zwischen politischer Führung und Bevölkerung. Die Führung war über Stimmungen gut informiert. Die Menschen konnten schnell »zu ihrem Recht kommen«. Im Jahr gab es etwa eine Million Eingaben, von denen 90 Prozent zugunsten derjenigen entschieden wurden, die diese Eingaben gemacht hatten. Ich war der Meinung, dass eine Ergänzung, aber keinesfalls etwa eine Ersetzung des Eingabenrechts durch Verwaltungsgerichte sinnvoll sei. Das Eingabenrecht war im Regelfall sehr wirkungsvoll. Aus meiner Verwandtschaft im Harz war einem Onkel ein Grundstück von der örtlichen Genossenschaft weggenommen worden. Im Namen dieses Onkels schrieb ich eine Eingabe an den 1. Sekretär der betreffenden Kreisleitung der SED. Nach einer Woche hatte der Mann sein Land zurück. Bei einem Verwaltungsgericht hätte so etwas weitaus länger gedauert.

Das Bundesjustizministerium soll 1990 verlangt haben, das gesamte DDR-Recht für ungültig zu erklären. Als den Abgesandten aus Bonn erläutert wurde, dass dann etwa auch alle Geburts-, Heirats- oder Sterbeurkunden ungültig würden, ließen sie von dem Ansinnen ab …

Richtig, das war der Punkt, wo sie einsahen, dass es so nicht geht. Aber vor allem das DDR-Verfassungsrecht haben sie im Handstreich beseitigt, gegen alle parlamentarischen Gepflogenheiten und rechtsstaatlichen Regeln. So lehnte es die letzte Volkskammer der DDR ab, den Verfassungsentwurf des runden Tisches überhaupt an den Rechtsausschuss der Volkskammer zu überweisen. Im Sommer 1990 wurden pauschal alle noch geltenden Bestimmungen der DDR-Verfassung außer Kraft gesetzt. Es existierte zwar eine Regelung von 1974, wonach jede Verfassungsänderung »den Wortlaut der Verfassung ausdrücklich ändert oder ergänzt« – ähnlich wie in Artikel 79 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das aber blieb unbeachtet. Die DDR ging so ohne Verfassung in »die Einheit«.

Aber noch etwas zum Rechtsstaatsbegriff. Es gab in der DDR über diesen Begriff immer wieder Debatten, weil er auch reaktionäre, konservative Elemente enthält. Aber schließlich fand er sogar Eingang in das Parteiprogramm der SED. 1988 wurde schließlich der Begriff des sozialistischen Rechtsstaats offiziell eingeführt. In den Diskussionen der neunziger Jahre war die Position von Uwe-Jens Heuer und mir immer: Das staatliche Handeln der DDR hatte starke rechtsstaatliche Elemente, aber auch Unzulänglichkeiten. Es gab zudem bessere Möglichkeiten, »zu seinem Recht zu kommen« als in der BRD. Und in mancher Hinsicht war das Rechtssystem der DDR dem der BRD weit überlegen. So gibt es heute in einem halben Jahr im Land Brandenburg mehr Straftaten als einst in der gesamten DDR in einem Jahr. Der Begriff »Unrechtsstaat« für letztere ist absurd. Es ist ein ideologischer Kampfbegriff zur Dämonisierung und Kriminalisierung. Die Vertreter dieser Ansicht um Bodo Ramelow in der Linkspartei, die der Verwendung dieses Begriffs im Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen zugestimmt haben, ordnen sich damit in den Rachefeldzug gegen die DDR ein.

Heuer hat im Bundestag in dieser Frage keinen Millimeter nachgegeben. Er verwahrte sich sowohl gegen die Angriffe auf die DDR aus dem bürgerlichen Lager als auch gegen die pauschalen Angriffe aus dem linken Lager gegen den »Stalinismus« der DDR.

Gibt es da auf der bürgerlichen Seite seit 1990 irgend etwas Neues?

Ja, die Diffamierung der DDR als Unrechtsstaat wurde auf das gesamte gesellschaftliche Leben in diesem Staat ausgedehnt. Das ist ein Konzept, das keine Analyse der politischen und juristischen Verhältnisse braucht. Das Urteil steht fest. Es ist der Versuch, eine wissenschaftliche Analyse gar nicht erst zuzulassen. Auf diesen Kurs mussten die Medien und viele Politiker erst gebracht werden. Sie haben sich damit durchgesetzt, weitgehend auch in der Linkspartei. Bodo Ramelow hat nach meiner Ansicht einen großen Anteil an dieser Verschärfung.

Wie sieht es bei den linken Antistalinisten aus?

Es gibt nach wie vor jene, die mit Schaum vor dem Mund über die DDR sprechen. Aber es gibt auch andere, mit denen man inzwischen vernünftig über die Probleme sozialistischer Gesellschaftsgestaltung, etwa über positive und negative Erfahrungen mit der Kommunikation zwischen Staat und Bevölkerung oder über Bürokratie und Bürokratismus im sozialistischen Staat, sachlich diskutieren kann.

In der Präambel zum Thüringer Koalitionsvertrag von Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen von 2014 wird die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet. Lässt sich daran die Rückwärtsentwicklung im Vergleich zu den 90er Jahren ablesen, als noch von »Sozialismusversuch« oder »-anlauf« die Rede war?

Das betrifft mehrere Koalitionsverträge, auch den in Berlin. Dieser Prozess ist weit fortgeschritten. Ich erinnere mich, dass zum Beispiel Udo Wolf, der heutige Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus, um 1992 herum ein Papier vorlegte, in dem sinngemäß stand: Nach dem Ende des Realsozialismus ist Sozialismus wieder möglich. Damals hat ihn Heuer scharf angegriffen. Das wäre zugleich Verunglimpfung der DDR und Illusionstheater über die Möglichkeiten eines neuen Sozialismus. Heute ist Wolfs Position in Teilen der Linkspartei vorherrschend.

Das Gespräch führte Arnold Schölzel

Ekkehard Lieberam, geboren 1937 in Braunschweig, ist Staatsrechtler und Publizist, jW-Autor und Sprecher des Marxistischen Forums Sachsen sowie Mitglied des Karl-Liebknecht-Kreises in der Partei Die Linke Sachsen. Zuletzt erschien von ihm »Am Krankenbett der Linkspartei. Therapie: Mehr Marx als Murks« im Pad-Verlag Bergkamen. Die Broschüre kann zum Preis von fünf Euro per E-Mail bestellt werden: pad-verlag@gmx.net.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/363873