25.09.2019 / Ausland / Seite 1 (Beilage)

Ein Fünftel der Menschheit

Die VR China ist auf einem langen Marsch in Richtung Zukunft. Das hat viel mit uns in Europa zu tun

Sebastian Carlens

In etlichen Branchen werden die technischen Trends längst nicht mehr in Europa, den USA oder in Japan gesetzt, sondern in der Volksrepublik China: Schnellzüge, Supercomputer, Elektroautos – hier sind die Chinesen billiger und längst auch besser als die westliche Konkurrenz. Der Aufstieg chinesischer Produzenten stößt allerdings auf Widerstand. Gegen Huawei, den Senkrechtstarter unter den Netzwerkausrüstern, bringen die USA ihre geballte Macht in Stellung: Es hagelt Boykottmaßnahmen und Sanktionen. Und doch gelingt es längst nicht mehr, alle westlichen Mächte zu zwingen, sich diesem Kurs anzuschließen. Würde Huawei von der deutschen Wirtschaft boykottiert, blieben ausschließlich US-Unternehmen als preislich vergleichbare Alternative im Ausbau der Funknetze der »fünften Generation« (»5 G«) übrig. Ein schlechtes Geschäft.

Es geht nicht nur um Huawei. Viel wichtiger ist der chinesische Absatzmarkt selbst, insbesondere für deutsche Unternehmen. Im Jahr 2018 lebten 1,39 Milliarden Menschen in China. VW zum Beispiel setzt längst mehr Autos im Reich der Mitte ab als im – bekanntlich autoverrückten – Heimatmarkt. Mit den Joint-Venture-Betrieben unterhält die Volkswagen Group China schon 33 Fabriken im Land. Bräche dieser Absatzmarkt ein – es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich den Untergang des ganzen Konzerns vorzustellen.

Welch ein Kontrast, sowohl zum stagnierenden Sozialismus in Europa in den 80er Jahren als auch zur Volksrepublik der frühen Jahre selbst. Auch 2019 wird das Land, das die kraftvollsten deutschen Monopole ins Schleudern bringen kann, von einer Kommunistischen Partei regiert. Die FAZ befasste sich im Mai mit der Frage, »was vom Sozialismus im 21. Jahrhundert übrigblieb«: Natürlich, auch VW darf in China Profite machen, denn es »haben sich inländische Firmen mit ausländischen oft in Gemeinschaftsunternehmen verbunden«. Doch da ist Wermut im Wein: »Staatskonzerne kontrollieren jedoch Schlüsselindustrien, welche grundlegende kapitalistische Güter, Dienstleistungen und Materialien bereitstellen, beispielsweise in der Telekommunikation.« Es geht hier also nicht mit rechten, sprich kapitalistischen Dingen zu.

Hinter dem Aufstieg eines Landes, das noch vor wenigen Jahrzehnten zur sogenannten Dritten Welt gerechnet wurde, stecken viele Faktoren. Zum einen die Öffnungspolitik ab den 70er Jahren. Doch auch die Reformen Deng Xiaopings konnten nur vor dem Hintergrund einer Schwerindustrialisierung, die bereits in den 50er Jahren einsetzte, in dem Sinne funktionieren, dass sie das Land nicht ausschließlich in einen gigantischen Absatz- und Dienstleistungsmarkt verwandelten, sondern alle Sphären der Wirtschaft nach vorne brachten. Zum anderen die ersten Fünfjahrespläne, die diese Grundlagen schufen. Sie wiederum waren auch Ergebnis der internationalen Solidarität, der – damals noch intakten – kommunistischen Weltbewegung.

Zum 70. Jahrestag der Gründung lassen wir deutsche Weggefährten und Freunde des Neuen China zu Wort kommen. Doch auch die Unterstützung der DDR für die junge Volksrepublik hatte bereits einen Vorläufer, nämlich die Solidarität der KPD mit der chinesischen Revolution zu Weimarer Zeiten. In den 80er Jahren gelang es der DDR-Führung, die Beziehungen zu China und zur KPCh nach den historischen Konflikten nicht nur zu »reparieren«, sondern – im Gegensatz zur UdSSR – die brüderliche Verbindung wiederherzustellen.

Ein Autor fehlt uns. Rolf Berthold, langjähriger und letzter Botschafter der DDR in Beijing, ist im Dezember 2018 verstorben. Rolfs Lebensthema war die Solidarität, die Freundschaft mit dem sozialistischen China; er hat Wesentliches geleistet, um die Entwicklungen der großen asiatischen Nation der deutschen Linken (wieder) nahezubringen. Denn unsere Geschichte ist eine gemeinsame, immer gewesen – trotz aller räumlichen Distanz.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/362931