07.01.2019 / 0

Neue Klassenpolitik

Die politische Debatte und die realen Kämpfe von prekär Beschäftigten und Mietern gehören zusammen

Nina Scholz

Die Debatte um sie ist noch jung, und trotzdem ist die »Neue Klassenpolitik« schon ein stehender Begriff – ein Sammelbecken voller Hoffnungen, Romantizismen, Projektionen und Missverständnisse. Für die einen ist es ein Begriff voller Verheißungen: Klassenkämpfe, Stärke, Bündnisse, Geschichte und Zukunft, Streiks – und das Ende des Kapitalismus. Andere hören: weiße, männliche Arbeiter, Geschichtsklitterung, Hauptwiderspruch.

Doch was ist der Kern dieser Debatte? Neu ist die Neue Klassenpolitik nur bedingt. Neu ist an ihr nur, dass alte Klassenpolitiken neu adaptiert, dass alte Praxen, verschüttetes Wissen geborgen werden mussten – und noch immer geborgen werden. Nicht dass dieses Wissen wirklich weg gewesen wäre, Linke haben es nur selten angewendet. Das Politische an der Klassenpolitik musste erst wiederentdeckt werden und wird jetzt mühsam in politische Praxen und in Alltagshandlungen integriert. Das fängt schon bei der Bündnisfähigkeit an: Mit wem kooperiert man? Wie wird mit Rassismen oder Sexismen der zu Organisierenden umgegangen? Wie werden Alltagshilfen mit langfristigen Strategien verknüpft? Wie kommt man raus aus der Kampagnenpolitik, und wie bindet man unorganisierte Nachbarinnen und Nachbarn oder Kolleginnen und Kollegen langfristig in politische Projekte ein? Auf dem Papier hört sich das alles leichter an, als es in mühsamen Gruppenprozessen gemeinsam bewältigt, geübt und praktiziert wird. In den Jahren vor der Renaissance des Klassenpolitik-Begriffs gab es mehrheitlich andere Strategien, andere Praxen, auch bei denen, die sich Kommunistinnen und Kommunisten nennen. Einzelne Events standen im Fokus, Hoffnungen waren oft an Spontanität von Massen, Riots, Mobs geknüpft. Die erhofften Erfolge blieben aus. Exemplarisch steht dafür Occupy Wall Street, das trotz seiner nur mäßigen langfristigen Erfolge zur Blaupause für die internationale Linke wurde. Solche »Events« kosten Kraft. Es kostet Kraft, sie zu organisieren, sie zu begleiten, sich danach davon zu erholen – und dann wieder von vorne zu beginnen. Die Kosten-Nutzen-Rechnung von solchen Formaten trägt eben nicht langfristig: Es braucht sehr viel Arbeitskraft von zahlreichen Aktivistinnen und Aktivisten, so etwas vorzubereiten, mit Medienkampagnen zu begleiten, andere zu mobilisieren und gleichzeitig kurzfristig Strukturen aufzubauen und am Laufen zu halten – wenn dabei kaum neue tragfähige Organisierungen entstehen und die Aktiven danach oft auch noch ausfallen, weil sie ihr Burnout kurieren müssen, ist die Bilanz negativ.

Mühsame Praxis

Hinzu kommt: Die politische Praxis der vergangenen Jahrzehnte war oftmals nur noch ein Abwehrkampf, zum Beispiel gegen einen Kapitalismus, der sich aus Richtung Silicon Valley erneuerte. Die immer aggressiver werdende Sparpolitik befeuerte die soziale Abwärtsspirale. Die unter Rechtsruck subsumierte Faschisierung Europas und der USA gibt nun den Rahmen ab, so dass man sich den Luxus, ohne starke Bündnisse in Kämpfe zu gehen, die weitaus bedrohlicher werden können als vorhergegangene, nicht mehr leisten kann. Parallel dazu reifte die Erkenntnis, dass der alte Werkzeugkasten aus Blockieren, Kampagne, Outing, Skandalisieren nicht gegen die neuen Rechten hilft, dass man mit Parolen auf Stickern, Postings auf Facebook und Transparenten auf Demonstrationen nicht die umstimmt, die unzufrieden und verzweifelt sind, denen eine Linke aber schon lange keine Lösungen mehr für ihre existentiellen Ängste anzubieten hat. Sozialpolitik und kulturelle Verankerung außerhalb des eigenen Milieus – das hat es lange nicht mehr massenhaft gegeben. Langsam reifte also die Erkenntnis: Es gibt zwar gar nicht so wenige Linke, aber kaum welche, die sich politisch jenseits der eigenen Szenekreise betätigen. Viele setzten auch schlicht und einfach aufs falsche Pferd: Repräsentation, Teilhabe, Sichtbarkeit von Marginalisierten wurden höher bewertet als die Überwindung der Verhältnisse, die jene erst zu Marginalisierten gemacht haben. Das hat im vergangenen Jahr besonders anschaulich die amerikanische Aktivistin und Uni-Professorin Keeanga-Yamahtta Taylor in ihrem Buch »Von #BlackLivesMatter zu Black Liberation« nachgewiesen: Sie zeigt anhand der Integration der Bürgerrechtsbewegung in den Staats- und Kulturbetrieb, wie sich eine schwarze Elite herausbildet, wie schwarze Menschen in den USA zwar immer sichtbarer werden, wie die Ungleichheiten aber insgesamt nicht abnehmen. Besonders gut kann man das an der Amtszeit von Barack Obama sehen, in der die soziale Bewegung »Black Lives Matter« gegründet wurde, zunächst um gegen die Morde an schwarzen, jungen Männern zu protestieren; sie wendet sich aber generell gegen den nach wie vorher strukturell sehr vitalen Rassismus.

Bücher wie die von Taylor entkräften auch leicht das häufig gegen Neue Klassenpolitiken vorgebrachte Argument, hier würde der weiße heterosexuelle Mann (Arbeiter) als Bündnispartner bevorzugt – und fetischisiert. Es dürfte mittlerweile klargeworden sein, dass Neue Klassenpolitik nicht den Korporatismus der BRD meint, sondern die Arbeitskämpfe und solidarischen, kämpferischen Bündnisse, die es von Anbeginn der Industrialisierung über die Black Panther bis zu den aktuellen Fabrikbesetzungen Argentiniens gegeben hat. Die Beispiele für Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft sind zahlreich: Von den Community-Arbeiterinnen und -Arbeitern der Black Panther lässt sich lernen, dass auch radikale Politik das Leben der Menschen im Umfeld konkret verbessern sollte, und von den aktuellen Arbeitskämpfen, dass es vor allem Frauen und Migranten sind, die die ganz schlechten Jobs machen – wenn sie überhaupt welche haben.

Die Perspektive wechseln

Daran anschließend denkt ein beachtlicher Teil der schwer beweglichen Linken aktuell die eigene Praxis neu: Wo früher Szenekneipen waren, werden Kiezläden geöffnet. Wo früher misstrauisch geschaut wurde, wenn Fremde reinkamen, versuchen Genossinnen und Genossen, offen auf die Neuen zuzugehen. Wo früher erklärt wurde, wird jetzt das Zuhören geübt. Wo sich früher Gruppen nicht einmal gegrüßt haben, lernen sie jetzt mitunter auch mal voneinander. So gibt es mittlerweile beachtliche Bündnisse. Postautonome Gruppen etwa aus dem »Ums-Ganze«-Bündnis, die sich früher kaum mit Arbeitskämpfen beschäftigt haben, versuchen die Streiks der Amazon-Arbeiterinnen und -Arbeiter zu unterstützen. Die Basisgewerkschaft FAU erhält stetigen Zulauf, nicht nur bei ihrer »#Deliverunion-Kampagne«, in der sich die Essenskuriere der Gig Economy organisieren.

In Stadtteil- und Mietkämpfen funktioniert der gemeinsame Kampf besonders gut, weil es dort tatsächlich noch ein stärkeres Beisammensein gibt – anders als an den Arbeitsplätzen. Die Vernetzung der Deutsche-Wohnen-Mieterinnen und -Mieter ist in Berlin zu einem breiten und heterogenen Bündnis gewachsen – und demnächst soll mit der »Deutsche Wohnen & Co enteignen«-Kampagne in einem Volksentscheid die Eigentumsfrage gestellt werden. 2019 soll es einen Frauenstreik geben. Hier wird ein kämpferischer Feminismus wiederentdeckt, der geraume Zeit verschütt gegangen war und neben dem Repräsentationspolitiken des liberalen Feminismus nur eine Nebenrolle spielten. Gleichzeitig werden hier auch Streikformen jenseits des klassischen Fabrikstreiks erdacht, also Mischformen aus Arbeits- und Reproduktionsstreiks, Boykotten und Blockaden, die auch für andere Kämpfe der Prekären und Vereinzelten relevant sein werden, denn Lohnarbeit findet heute nur noch selten am gemeinsamen Arbeitsplatz statt – und auch dort sind die wenigsten heute festangestellt.

Das sind nur ein paar Beispiele von all dem, was aktuell parallel passiert. Sie illustrieren nicht nur, dass hier keine Hauptwiderspruchsfetischisten am Werk sind, sie zeigen auch das aktuelle Manko der Neue-Klassenpolitik-Debatte auf. Während sich Autorinnen und Autoren die immergleichen Argumente um die Ohren hauen, passiert andernorts das, was man sich von so einer Debatte oftmals nur erträumen kann: Erkenntnisse werden in Praxis umgewandelt. Die Debatte hinkt derweil hinterher und setzt sich kaum mit den Erkenntnissen dieser Praxen auseinander. Das liegt auch daran, dass viele der Kämpfenden weniger auf große Demonstrationen, auf Transparente, auf Öffentlichkeitsarbeit, auf Bilanzierungen und Blogtexte fokussieren. Sie verwenden ihre Energie darauf, Strukturen aufzubauen, sich gegenseitig kennenzulernen, Bündnisse einzugehen, Räume zu öffnen, Widersprüche auszuhalten. Das kostet Kraft und Zeit. Zeit, die dann fehlt, ihre Erfahrungen für das linke Feuilleton aufzubereiten.

Die Debatte kann nur vital bleiben, wenn von den Debattierenden danach gefragt wird, was funktioniert und was nicht. Welche Strategien sind wo nützlich? Welche nicht? Warum also nicht mal bei den Kämpfenden vorbeigehen, statt den nächsten Meinungstext zu schreiben, und einfach mal nachfragen, wie es bei ihnen läuft? Was halten Amazon-Arbeiterinnen und -Arbeiter von Linksradikalen, die auftauchen? Und umgekehrt? Wie fanden und finden Fahrradkuriere zusammen? Dazu wäre auch eine Offenheit der Kämpfenden notwendig: Sie müssten reflektieren und klarmachen, was sie gelernt haben, im Positiven wie im Negativen. Linke führen ihre Politgruppen heute aber fast wie kapitalistische Unternehmen: Jede noch so kleine Aktion verkaufen sie als Erfolg, über Misserfolge schweigen sie lieber, um nicht als schwach zu gelten. Doch nur wenn diejenigen, die gerade daran arbeiten, die Neue Klassenpolitik umzusetzen, ehrlich miteinander sind, können Strategien weiterentwickelt und kann endlich die wichtigste Frage gestellt und vielleicht auch beantwortet werden: Wie kommen wir aus der Vereinzelung der zahlreichen klassenpolitischen Kämpfe zu einer robusten, kämpferischen Organisation, die der Faschisierung und dem sich immer räuberischer entwickelnden Kapitalismus tatsächlich schlagkräftig entgegentritt?

https://www.jungewelt.de/blogs/rlk2019/347138