23.08.2018 / 0

Rotlicht: Strategie

Ronald Weber

Hitler plante schon die Siegesfeier. Im September 1942 ging er davon aus, dass die deutschen Truppen Stalingrad rasch erobern würden. Die Stadt an der Wolga sollte im Bodenkampf genommen werden. Aber es kam anders, denn Hitler hatte die falsche Strategie gewählt. Im Gegenzug erwies sich die sowjetische als die richtige: den Gegner weit aufnehmen, umschließen und vernichten. Nach der Niederlage der Sechsten Armee bei Stalingrad war offenbar: Der zuvor als »größter Feldherr aller Zeiten« gepriesene »Führer« war eine strategische Niete.

Vielleicht hätte Hitler bei dem chinesischen General Sunzi (544–496 v. u. Z.) nachlesen sollen, der in seiner Schrift »Die Kunst des Krieges« eine Strategie der Kampfvermeidung propagiert. Dort heißt es: »Die höchste Form der militärischen Führerschaft ist, die Pläne des Feindes zu durchkreuzen, die nächst beste, die Vereinigung der feindlichen Streitkräfte zu verhindern, die nächste in der Rangfolge ist, die Armee des Feindes im Felde anzugreifen. Die schlechteste Politik ist, befestigte Städte zu belagern.«

Hitler hielt sich statt dessen an Clausewitz, wie er seit dem späten 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund der raschen Siege der Deutschen gegen Frankreich 1870/71 verstanden worden war: als Befürworter einer Niederwerfungsstrategie. Dabei argumentierte der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz (1780–1831) in seiner Schrift »Vom Kriege« durchaus differenzierter, wie er den Krieg überhaupt der Politik unterordnete bzw. als »bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« aufgefasst wissen wollte. Clausewitz klassische Definition der Strategie lautet: Diese sei »die Lehre vom Gebrauch der einzelnen Gefechte zum Zweck des Krieges«. Man könnte auch sagen: Die Strategie bildet das Gesamtkonzept, die Kombination der verschiedenen Möglichkeiten zur Erreichung eines Ziels. Davon unterschieden ist die Taktik, nach Clausewitz »die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht«, wörtlich nach dem griechischen Namensursprung »Taktiké«: die Lehre von der Anordnung.

Es liegt nahe, sich die Überlegungen von Clausewitz auch für den revolutionären Kampf nutzbar zu machen. Die marxistischen Theoretiker seit Friedrich Engels waren begeisterte Clausewitz-Leser: von Mehring über Lenin bis Mao Zedong. Aber die Rezeption des preußischen Theoretikers lag nicht allein auf militärischem Gebiet, wie sich das Begriffspaar von Strategie und Taktik bald überhaupt von der ursprünglich kriegerischen Bedeutung ablöste (und heute für alles mögliche in Gebrauch ist: von der Diskurs- bis zur Liebesstrategie).

Für Lenin zählte die Bestimmung des Verhältnisses von Strategie und Taktik zu den wichtigsten Aufgaben der Sozialdemokratie, verbirgt sich hinter dieser Frage doch die komplizierte Beziehung zwischen Theorie und Praxis. Lenin kritisierte die Zweite Internationale bereits früh für ihre strategische Schwäche. Sie hatte, indem sie vor allem auf parlamentarische Erfolge setzte, die Taktik an die Stelle der Strategie gesetzt. Statt dessen betonte der russische Marxist: »Jeder Kampf für die jeweiligen Erfordernisse des Tages muss unlösbar mit dem Hauptzielen verbunden sein.«

Zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie, dessen war sich Lenin sicher, bedürfe es einer unvoreingenommenen und umfassenden Analyse des Status quo und einer beständigen Überprüfung dieser anhand der Praxis. Aber das allein führt noch nicht zum Erfolg. Man muss auch – man denke an die Oktoberrevolution – in der Lage sein, die Taktik den jeweiligen Bedingungen anzupassen.

Zur Strategie gehört notwendig der Stratege, der im Erfolgsfall auch ein guter Taktiker sein muss; der beste Gesamtplan ist nichts, ohne dessen Ausführer. Da mag Georgi Plechanow, der in seiner Schrift »Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte« nachzuweisen suchte, dass das einzelne Individuum den Lauf der Geschichte nicht zu ändern vermöge, noch so sehr recht haben: Im Konkreten wäre es wohl ohne Lenin 1917 nicht gegangen.

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