22.08.2018 / Kapital & Arbeit / Seite 1 (Beilage)

Der Gott, der Plastik schuf

Der Kapitalismus erstickt an seiner eigenen Produktivität. Den Dreck, den er schafft, wird er nicht mehr los

Daniel Bratanovic

Das Material ist die Signatur der Epoche. Die weit entlegenen, frühen Phasen der Menschheitsgeschichte, deren Umstände des gemeinschaftlichen Lebens und Tötens keiner so genau kennt, sind der Einfachheit halber nach den bevorzugt genutzten Werkstoffen des »tool making animal« benannt: Es gab eine Steinzeit, während der ein noch recht junger Homo sapiens mit dem Faustkeil hackte und schabte, schnitt und schlug. Danach eine Bronzezeit, in der die Metallgegenstände für Hieb und Stich vorherrschend aus der Kupfer-Zinn-Legierung gefertigt waren, und schließlich eine Eisenzeit, deren Name so gemütlich und behaglich klingt, wie die unerquicklichen Zustände, die der rasende Ernst Moritz Arndt (1769–1860) in seinem »Vaterlandslied« (das ist das Gedicht, in dem ein Gott auftritt, »der Eisen wachsen ließ«) beschwört.

Zu jener Zeit, als Arndt mit seinem Furor teutonicus die Welt belästigte, begann Eisen bzw. dessen härtere Veredelungsform Stahl dank entwickelter Verfahren der Massenproduktion zum Werkstoff par excellence der beginnenden Industrialisierung zu werden und verlieh der Ära des sich voll entfaltenden Kapitalismus sein Gepräge. Die Ikonen dieses Zeitalters heißen Eiffelturm und Brooklyn-Bridge.

Die weitere Verwissenschaftlichung der Welt und die Dynamik der Kapitalakkumulation brachten dann wenig später einen Typ Material hervor, der rasch seinen Siegeszug antrat und als Segen der Menschheit gepriesen wurde, um heute wie ein Fluch auf dem Ökosystem des Planeten zu lasten. Plastik ist billig in der Herstellung und kann jede beliebige Form annehmen. Hart oder elastisch, beständig und bruchfest finden die Kunststoffe auf unterschiedlichste Weise Verwendung und sind in der industriellen Produktion wie im Massenkonsum omnipräsent und kaum mehr wegzudenken: als Verpackung, Behälter und Textilfaser, als Maschine, Möbelstück und Spielzeug und auch als »Körperersatzteil«. Die gegenwärtige Welt erscheint als eine ungeheure Sammlung von Plastik.

Und von dessen Müll. In der »Plastikzeit« wurden zwischen 1950 und 2015 weltweit etwa 8,3 Milliarden Tonnen Kunststoff hergestellt, die Hälfte in den vergangenen 13 Jahren. Von dieser Menge – eine Tonne pro Kopf der Weltbevölkerung – sind 6,3 Milliarden Tonnen zu Abfall geworden, der nicht verrottet, weil die chemische Beschaffenheit bzw. Beständigkeit des Werkstoffs das nicht zulässt. Der Kapitalismus erstickt an seiner eigenen Produktivität, den Dreck, den er schafft, wird er nicht mehr los.

Das Problem mag bekannt sein, erkannt ist es damit noch lange nicht. Ohne Hinweis auf den verborgenen Hintergrund einer nämlich binnenlogisch rast- und maßlosen Produktionsweise wird man mit allem Hin- und Herreden nicht von der Stelle kommen. Das versetzt dem Glauben an die Allheilmittel von Wissenschaft und Technik einen Dämpfer. Denn die unmittelbare Produktivkraft Wissenschaft, sagt Marx, ist unter gegebenen, also kapitalistischen Bedingungen, dem Kapital »nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren«. Seine »bornierte Grundlage« stellt das Kapital inzwischen selbst in Frage. Das allerdings sind keine angenehmen Aussichten.

Die Müllberge dieser Welt sind zu den Ikonen der »Plastikzeit« geworden. Und wer im Archiv der Popmusik stöbert, entdeckt dort die ironische Hymne dieser Ära. Eine Refrainzeile im Song »Barbie Girl« der dänisch-norwegischen Band »Aqua« aus dem Jahr 1997 gibt Auskunft über das Leben in dieser Welt: »Life in plastic, it’s fantastic.«

https://www.jungewelt.de/beilage/art/338236