16.07.2018 / Feuilleton / Seite 10

Durch dichtestes Wortgestöber

Das Fremde blitzt inmitten des Bekannten auf und bricht es – Sylvia Geists neue Gedichte

Björn Hayer

Ein Haus wird von zertretenen Melonen umhüllt, eine Matrjoschka wie eine Zwiebel gehäutet – Sylvia Geists neue Lyrik macht die Grenzen unserer in innen und außen geteilten Welt durchlässig. Tief dringt der Leser vor, um im nächsten Vers wieder an den äußersten Rand geworfen zu werden. Bezeichnenderweise trägt ihr aktueller Band den Titel »Fremde Felle«: Das Eigene wird uneigen.

Dies trifft insbesondere auf den Körper zu: Im Brustkorb blüht etwas auf, ein Chirurg überführt mit Nadelstichen ins Hirn ins Jenseits. In Geists Gedichten flaniert man schon mal an »Hecken aus Ganglien« vorbei, also an Anhäufungen von Zellkörpern im peripheren Nervensystem.

Zugegeben, ihre Miniaturen verstören und erliegen in Teilen der in der zeitgenössischen Lyrik gegenwärtig grassierenden Übercodierung. Aber die ausufernden Assoziations- und Metaphernketten bilden bei ihr einen Wert an sich. Permanent verschiebt sie die Wahrnehmung des Lesers und reißt ihn mit. So beispielsweise in »Die Erfundenen«. Ein Unbekannter führt Gestrandete durch den Regen über eine Insel, unbekanntes Terrain mit eigenen Gesetzmäßigkeiten: »Wir waren Summen / zusammengekommen in einer Sprache, die wir nicht beherrschten / Scherben einer Flaschenpost, abgesetzt außerhalb von Ausland.«

»Fremde Felle« vermisst sprachmalerisch die Bezirke abseits unserer konventionellen Vorstellungen. Wie aus Traum längst Realität geworden ist, zeigt der Text »Kleines Glossar mildernder Umstände«: »Hunderttausend Jahre länger / als geglaubt sind wir an der Arbeit, vor zehntausend // jagten wir Gnus im Flachland rund um das Riff / im nächsten werden wir flüssig genug für die Arche // auf dem Mond, und noch ist nicht zu entziffern / wie das hereinkam, das Kryptonit, das ausgedachte // Kronenzeug.« Räumliche Barrieren fallen wie die zeitlichen und doch bleibt ein Rest Geheimnis, in diesem Fall das fiktive Mineral »Kryptonit«, das üblicherweise in den Superman-Comics vorkommt.

Während also unser Dasein ergründet erscheint, birgt die Phantasie die letzten Bastionen des Unerklärbaren. Geist lässt sie inmitten der Wirklichkeit aufblitzen, bricht diese, um uns das Anormale des Normalen zu zeigen. Geboren 1963 in Berlin, hat sie mit ihren Erzählungen, Novellen und einem breiten poetischen Werk bewiesen, dass sie die kurze Form beherrscht. Ihre Texte sind minutiöse Impulse aus einem fremden Universum. Da der Leser mit Eindrücken überfrachtet wird, sind sie nicht sehr zugänglich. Es lohnt sich aber letztlich, die Herausforderung anzunehmen und sich durch das dichte Wortgestöber zu begeben.

Sylvia Geist: Fremde Felle. Hanser Berlin, 2018, 96 Seiten, 18 Euro

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