02.05.2018 / Feuilleton / Seite 11

Zieht Ketten: Rotten Bliss auf Tour

Kristof Schreuf

In der Nacht vor dem Beginn des Wonnemonats verwandelt sich Kreuzberg in Babel. Bloß, dass die vielen Menschen, die an diesem warmen Abend durch das Szeneviertel schlendern, und sich dabei in lauter unterschiedlichen Sprachen unterhalten, keinen Turm, sondern gute Stimmung aufbauen wollen. Statt zu streiten, wollen sie Entdeckern und Entdeckerinnen bei der Arbeit zuschauen. Eine von ihnen tritt im Keller von Madame Claude, einem früheren Puff, auf. Dort legt die englische Cellistin und Sängerin Jasmine Pender, welche unter dem Künstlernamen Rotten Bliss Platten veröffentlicht und durch Europa tourt, barfuß ein paar Schritte ins Publikum zurück, während sie a cappella eine Folkballade singt.

Dann kniet sie sich hin und beugt den Kopf nach vorn. Ihre langen dunklen Haare fließen zu dem vor ihr auf einem Teppich liegenden elektrischen Cello, wie das von Schiffsschrauben aufgewühlte Wasser, von dem sie auf einer Fähre von Südspanien nach Tanger einen Film aufgenommen hat, den sie auf einer Leinwand hinter sich laufen lässt.

Rotten Bliss zieht Ketten über die Saiten des Cellos, so dass apart gruselige Töne entstehen. Sie schlägt eine Saite an, um einen Drone-Klang zu erzeugen, und sie schlägt das Instrument, so dass es wie Perkussion klingt. Dazu singt sie Mörderballaden und Seemannslieder.

Sie stellt das Cello hin und drückt mit einem großen Zeh auf ein Tablet, um weitere Klänge anzusteuern. Es passiert eine Menge bei ihrem Auftritt. Und genauso will Rotten Bliss es haben. Sie ist ausgezeichnet organisiert, spielt ebenso spannende wie offene Musik und hat viel vor.

Für die Aufnahme ihrer nächsten Platte will sie eine Kirche mieten und danach nicht mehr bloß durch Europa, sondern durch die ganze Welt reisen. Für Musikinteressierte überall wäre das ein Glück.

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