13.01.2018 / 0

Von der Wut zum Wissen

Wie Personen, Gesellschaften und Texte in Bewegung kommen. Über Karl Marx

Dietmar Dath

Im März erscheint im Reclam Verlag in der Reihe »100 Seiten« der Band »Karl Marx« von Dietmar Dath. Wir veröffentlichen daraus vorab mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag einen redaktionell gekürzten Auszug aus dem ersten Kapitel. (jW)

Der beste Freund, den Karl Marx und seine Lehre jemals hatten, war Friedrich Engels. Was dieser Fabrikantensohn, Soldat, Lebenskünstler und Zukunftsdenker für Marx und dessen Arbeit getan hat, passt in kein Buch. Zehn Bücher könnten es nicht fassen. Warum hat Engels sich so heftig und ausdauernd engagiert? Was hat die Theorie, für die er so viel leistete, umgekehrt für ihn geleistet? 1880, knapp drei Jahre vor dem Tod des Geförderten und Bewunderten, gab der Freund jenem die Begründung seiner Unterstützung schriftlich, im Titel und in den Ausführungen einer Arbeit, die zusammenfassen sollte, was Marx erreicht hatte: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«.

Was das Wort »Wissenschaft« bedeutet, ist klar: eine gesellschaftliche Veranstaltung, bei der man Aussagen über Sachverhalte mittels Beobachtung, Folgerungen, hypothesengeleitetem Experiment und Gegenproben ermittelt. Wissenschaft zeigt uns die Welt nicht so, wie wir sie gerne hätten oder wie wir fürchten, dass sie schlimmstenfalls sein könnte, sondern so, wie sie mit uns wechselwirkt.

Was aber bedeutet »Utopie«? Beim Gebrauch dieses Wortes gehen Optimismus, Pessimismus (dann oft unter dem Stichwort »Dystopie«) und freie Teilchen realistischer Tatsachenabbildung durcheinander. Das Bedeutungsfeld des Begriffs war stets gleichsam verschmiert: Wo er benutzt wird, weiß man nie sofort, ob ein literarischer Text aus dem 16. oder 20. Jahrhundert gemeint ist, ein politisches Wunschprogramm junger Leute, die den Platz vor einer Bank blockieren, oder eine komplizierte Idee, in deren Zeichen der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) versuchte, alles, was ihm irgendwie sympathisch war, von der Bergpredigt bis zur Forschungsfreiheit, unter einen begrifflichen Hut zu zwingen.

Geist der Utopie

Mit 14 war ich Utopist, ohne zu wissen, was das ist. Ich wollte, dass nichts mehr so sein sollte wie da, wo ich leben musste. Alles sollte anders sein, am besten so, wie es noch nie irgendwo gewesen war, nur am Nicht-Ort des Denkens, was die wörtliche Bedeutung der griechischen Wortfügung »Ou Topos« ist. Mit 15 war ich schon kein Utopist mehr. Das lag aber nicht, wie man vielleicht vermutet, weil das ein naheliegender Dreh für die Einleitung eines kleinen Büchleins über Marx wäre, an Marx und seinen Schriften.

Wenn man jung ist, verschafft man sich Bewegung, wo man kann. Das Leben wird interessanter, wenn auch nicht bequemer, sobald man sich auf Anstrengungen einlässt, ein neues Gesellschaftssystem durchzusetzen: »Sozialismus«, das klang konkreter als der Nicht-Ort. Bald wurde ich Zeuge einer spektakulären Niederlage jener Anstrengungen: Große Staaten, die sich auf Marx berufen hatten, ließen das fortan bleiben und lösten sich in unübersichtliche Verhältnisse auf.

Für mich persönlich war es zu spät, abzuspringen, Marx hatte mich schon überzeugt. Ein Kommunist schrieb mir neulich eine E-Mail, weil ich mit ihm und anderen eine Diskussion darüber angefangen hatte, wie und warum sich verschiedene Leute zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Umständen von Marx überzeugen ließen. Der Kommunist seufzte schriftlich, das habe oft nicht nur mit Inhalten zu tun, sondern mit der »Heroisierung von gewesenen Kämpfen«, der »Ikonisierung unserer Heldinnen und Helden usw.«, also mit linker Romantik. Der Genosse bekannte: »Die meisten von uns sind nicht Kommunisten geworden, weil sie den 18. Brumaire gelesen haben, sondern weil sie sich über die Menschenschinderei und den Schlachthof Geschichte aufgeregt haben.«

Die Anspielung auf den »18. Brumaire« bezieht sich auf ein Buch von Marx über ein seinerzeit aktuelles Ereignis: Am 2. Dezember 1851 hatte ein Verwandter des toten Kaisers Napoleon, der »Rechtspopulist« (wie man heute sagen würde) Louis Bonaparte, sich in einem Staatsstreich Frankreich unter den Nagel gerissen, ein Ergebnis der revolutionären Unruhen, die ganz Europa um 1848 erfasst hatten.

Vergleicht man die Schrift, die Marx dieser Neuigkeit widmete, mit der Art, wie solche Ereignisse rund 150 Jahre später in politischen Kommentaren diskutiert werden, fallen starke Unterschiede auf – ein inzwischen schon wieder aus dem Weltmedienbewusstsein verschwundener Vorgang kann das verdeutlichen: Der Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 war für die meisten Menschen, die mit Hilfe elektronischer Massenmedien im Minutentakt auf den neuesten Stand gebracht wurden, eine Art Zuschauersportereignis, bei dem man Wetten darüber abschließen kann, wie es ausgehen wird. Wenn die Militärs gewinnen, wird die islamistische Tendenz im Land dann vielleicht schwächer, mit der Präsident Erdogan kokettiert? Wenn Erdogan gewinnt, wird dann wenigstens eine stabile Ordnung einkehren?

Dies war genau die Art von Gedanken, die Marx sich nicht machte, als Louis Bonaparte die Macht ergriff. Für ihn ging es nicht um Wettquoten, sondern ums Ganze, um seine eigene Sache und das Schicksal der politischen Bewegung, der er angehörte.

Das Ende der französischen Republik, das da in die Diktatur mündete, war in der Perspektive dieser Bewegung nur der scheußliche Höhepunkt einer Reihe von reaktionären Taten der besitzenden Klassen in Frankreich. Noch 60 Jahre früher, in der berühmten großen Französischen Revolution, waren aus den Reihen des dortigen Bürgertums die entschiedensten Denker und Anstifter der Abschaffung des Feudalismus und der Monarchie hervorgegangen.

Was Marx die »absteigende Linie« seit jener Revolution nannte, analysierte er im »18. Brumaire des Louis Bonaparte « schon im Titel als Bestandteil eines Epochenzusammenhangs: Die Revolution hatte einen neuen Kalender geschaffen, und der 18. des Monats Brumaire im Jahr acht dieses neuen Kalenders (nach der vorher und nachher geltenden Rechnung also der 9. November 1799) war der Tag gewesen, an dem Napoleon Bonaparte, der Onkel des späteren Putschisten, den nicht mehr regierungsfähigen Resten der revolutionären Staatsgewalt die Macht entrissen hatte. Marx macht mit seinem Titel einen bösen Witz: Was Napoleon getan hatte, war noch ein Akt der Größe gewesen, Schicksalsmoment einer grandiosen sozialen Umwälzung, mit dem verglichen der Regierungsantritt des Neffen aussah wie eine Karikatur neben einer Helden­büste. Dies, urteilte Marx, lag daran, dass jenes revolutionäre Bürgertum einen Niedergang hinter sich hatte, an dessen Tiefpunkt ein Gauner wie dieser Louis Bonaparte mit seinen letzten Resten spielend fertig wurde.

Marx war fest entschlossen, andere dazu zu bewegen, Konsequenzen aus seiner Analyse zu ziehen. Das allein schon hebt seinen Stil und seine Herangehensweise deutlich davon ab, wie heute öffentliche Erörterungen von Tatsachen wie »Es wurde da oder dort geputscht« oder »Ein Tyrann im arabischen Raum ist gestürzt worden« aufgebaut sind. Kommentare beziehen Ereignisse heutzutage selten auf ihre Voraussetzungen im Bereich der Absichten und Interessen, ein schlüssiges Gesellschafts- und Geschichtsbild wird nicht vorausgesetzt, derlei gilt als ideologisch verbohrt. Marx setzte ein solches Bild aber voraus. Ihm war klar: Gesellschaftliche, menschengeschaffene Sachverhalte bestehen zu einem nicht geringen Teil gerade aus Hoffnungen und Ängsten der Beteiligten. Sie sind das, was unsere Handlungen miteinander vermittelt, einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellt.

In der E-Mail meines kommunistischen Bekannten wird eine Unterscheidung angedeutet, die nahelegt, es gäbe auf der einen Seite Empörung, Verurteilung der schlechten Welt, und auf der anderen Seite das Lesen und Denken sowie die Schriften, die zu beidem einladen. Diese zwei Seiten aber stehen ein­an­der in Wirklichkeit nicht getrennt gegenüber, es gibt den Unterschied nur als gewaltsam fixierten. Gerade der »18. Bru­maire« zum Beispiel, so knapp und klar er ist, lebt von Empörung und Verurteilung der Vorgänge, die er erklären will. Marx hat auf erfreuliche wie schlechte Nachrichten häufig mit dem Verfassen von Gebrauchstexten für politische Organisa­tio­nen reagiert, etwa den Bund der Kommunisten oder die Erste Internationale Arbeiterassoziation. Es galt in solchen Momenten, unter Zeitdruck Übersicht herzustellen, damit man wusste, in was man sich einmischen sollte. (…)

Zweierlei Wut

Kann jemand, der Aufstände begrüßt, eine Diktatur fordert, Philister erschreckt und sich nicht scheut, die seit Urzeiten bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als »die ganze alte Scheiße« zu beschimpfen, eine Wissenschaft begründen, sei es nun die des Sozialismus oder sonst eine? Mein kommunistischer Bekannter hat ja recht: Es sind nicht Texte von Marx, sondern Unzufriedenheiten, die Menschen normalerweise in den Denk- und Handlungshorizont linker Überzeugungen schleudern – manchmal zum Anarchismus, manchmal zum Kommunismus, manchmal zu Occupy und manchmal zu einer bescheiden mühsamen Arbeit als Rechtsanwältin für Flüchtlinge ohne Papiere. Selbst bei Marx gab es (…) diese Erregungszustände; seine Arbeit war durchaus Nervensache. Wie hängen diese Nerven aber mit seinen Analysen zusammen? Warum reicht es manchen Menschen nicht, ihr Unbehagen am Gemeinwesen in einer Krawalldemo, einem Songtext, einem Graffito oder einer anderen spontanen Verausgabung der Affekte zu entladen?

Ich selbst bin von der beschriebenen Affektspannung nicht an der Hand von Karl Marx abgekommen, sondern aus einem anderen Grund. So, wie Marx auffiel, dass es unter angeblich seit 1789 gleichgestellten Menschen, die allesamt keine Adligen sind, zwei verschiedene Sorten Teilnahme an der Produktion der gesellschaftlich benötigten Güter und Dienstleistungen gibt, so gibt es, lernte ich mit etwa 16 Jahren, nicht nur eine, sondern mindestens zwei Sorten Wut, die heiße und die ­kalte.

Menschen werden wütend, wenn ihnen etwas Unlust bereitet oder eine erhoffte Lust verwehrt. Manchmal reicht schon die Befürchtung, dass es so kommen könnte. Dass wir Menschen bei Unlust, verwehrter Lust oder Angst vor einem von beidem wütend werden, ist für Hordentiere wie uns ein von der Evolution nützlich eingerichteter Umstand.

Wenn es andere unseresgleichen sind, die uns Unlust bereiten oder Lust verweigern, können Aggression und das aggressive Gebaren, das aus Wut entsteht, die Verursacher unserer Unlust oder Angst zur Korrektur ihres Verhaltens zwingen. Wenn wir Pech haben, entsteht daraus allerdings wieder Wut bei jenen; das Resultat ist im schlimmsten Fall die berühmte Gewaltspirale, auch als Teufelskreis bekannt.

Mit 14 Jahren, als ich die Begeisterung für Utopien gerade verlor, war ich an Schultagen zwischen 8 und 14 Uhr oft genug wütend. Das lag außer an pubertätstypischen Stimmungsschwankungen an besonderen Umständen, durchaus objektiv messbaren, die auch Eltern und anderen Leuten auffielen, die meine Schule nicht besuchten. Wir hatten es da mit einer im Umlandvergleich überproportional hohen Anzahl von problematischen Lehrerinnen und Lehrern zu tun, Al­koholikern, Depressiven, Cholerikern, Esoterikern, die mangelnde Lernerfolge bei den ihnen anvertrauten jungen Menschen als persönliche Beleidigungen empfanden. Ihre Vergeltungsmaßnahmen schonten die Kinder vermögender oder einflussreicher Eltern mit nachtwandlerischer Sicherheit. Bei denen, die nicht geschont wurden, kam daher Wut auf; zunächst heiße.

Heiße Wut ist Erregung, die zwar die Quelle des Übels erkennt, das sie reizt, aber nicht weiter denken kann als bis zum unmittelbaren Gegenschlag. Heiße Wut war das, was uns dazu aufstachelte, im Unterricht Lärm zu schlagen, das verhasste pädagogische Personal bei Zufallsbegegnungen in der Stadt zu verhöhnen, seine Autos oder Fahrräder zu beschädigen und ähnliche alberne bis ernsthaft destruktive Angriffe mehr zu riskieren, die natürlich ständig mit Niederlagen endeten, nämlich Strafen, Schwierigkeiten zu Hause, Schadensersatz usw. Wenn die Wut nicht abebbte (wie sollte sie, die Anlässe bestanden weiter), konnte das zu folgenreich verpfuschten Erziehungslaufbahnen führen, zum Sitzenbleiben beispielsweise, zu Schulverweisen und anderen Erlebnissen, die das Leiden verlängerten und verschärften.

Schreien und lernen

Wut, die zwischen unartikulierbarem Groll und unpräzisen Gegenschlägen hin und her schwingt, kannte auch Karl Marx, nicht nur in Jugendjahren (die bei ihm vergleichsweise behütet und sorgenfrei waren).

Als linker Oppositioneller im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts musste er harte Schläge einstecken, von der unmöglich gemachten akademischen Karriere, zu der ihm auch seine offensichtliche intellektuelle Begabung nicht verhelfen konnte, über Zensurmaßregeln gegen Zeitungen, bei denen er schrieb, weil er nicht Professor werden konnte, bis hin zu erzwungenen Wohnungswechseln wegen staatlicher Verfolgung, die ihn erst nach Paris jagte, wo ihn die preußische Regierung anschwärzen ließ, dann nach Brüssel, wo er blieb, bis ihn auch Belgien auswies, so dass er zurück nach Paris und endlich nach London übersiedelte, wo er an seinem Hauptwerk arbeitete, bis er starb.

Auf seinem teils krummen, teils gezackten Weg musste Marx mit seiner Familie, also Frau und Töchtern, ein finanziell unsicheres und gesundheitsschädigendes Leben führen, das ihm unter anderem Karbunkel (die aus Haarwurzelproblemen und Furunkeln entstehen) bescherte.

Dieses spezielle körperliche Leiden befeuerte seine Wut auf die herrschenden Gewalten, denen er die Schuld an seiner prekären Existenz gab, so sehr, dass er mit grimmigem Humor im Juni 1867 an Engels schreiben konnte: »Jedenfalls hoffe ich, dass die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkeln denken wird. Welche Schweinhunde es sind, jetzt wieder neue Probe!«

So arg die heiße Wut in solchen Momenten in ihm geglüht haben muss, die kalte lag ihm näher. »Kalte Wut« nenne ich einen Zustand der Unzufriedenheit über Leiden und ausbleibendes Vergnügen, der zum kühlen, auf langfristigen Erfolg angelegten Plan aushärtet, statt sich in spontanen Eruptionen zu verausgaben.

Persönlich begegnet bin ich dieser kalten Wut das erste Mal bei Freundinnen und Freunden an der unerfreulichen Schule, von der ich schon berichtet habe. Die machten sich klar: Arrest, schlechte Noten und Sitzenbleiben verbessern die Situation nicht. Besser war der Zusammenschluss mit anderen, um einander bei Laune zu halten, oder ein Überlebensplan (etwa: die Schule wechseln, zu Verwandten anderswo ziehen). Am besten war strategisches Handeln: Herausfinden, ob die Gegenseite irgendwelche Regeln befolgte, die man gegen sie nutzen konnte. Tatsächlich muteten sich die Problemlehrerinnen und -lehrer zum Beispiel ungern selbst die Zusatzarbeitszeit der Arrestüberwachung zu, was sich ausnutzen ließ, oder sie lagen untereinander in Streit, den man für Schaukelpolitik instrumentalisieren konnte, und dergleichen mehr.

Die Lehre lag auf der Hand: Heiße Wut beißt und schreit wider das Übel, kalte lernt und versteht, um das zu ändern oder abzuschaffen, was sie provoziert hat. Nicht alle vollzogen diesen Schritt mit. Ich erinnere mich an einen nicht unsympathischen Mitschüler, der nie bereit war, seine Wut abkühlen zu lassen. Er fand, dass jeder Versuch, die Beweggründe der Gegenseite zu verstehen, letztlich darauf hin­aus­laufen müsse, ihr bis zu einem gewissen Grad zu ver­geben. Diskussionen auf dem Pausenhof, die zum Beispiel um die Unterscheidung zwischen Verrückten, Alkoholikern und Überforderten kreisten, sabotierte er mit Worten wie: »Ich will nicht wissen, ob der Typ ein Alkoholiker ist, er ist ein Drecksack!«

Das beleidigende Wort brachte denselben Furor zum Ausdruck, der die Formulierung »Schweinhunde« im Brief von Marx an Engels ausgelöst hat. Aber es ignoriert, was ich damals nur spürte und nicht artikulieren konnte: Wenn wir wissen, dass ein Lehrer ein Alkoholiker ist, und Beweise dafür finden, die wir unseren Eltern vorlegen können, haben wir einen Hebel gegen ihn gefunden.

Verständnis muss nicht versöhnlich gemeint sein. Im Gegenteil, so lernte ich später, sind es oft die allerunversöhnlichsten Gegnerinnen und Gegner eines Missstandes, die sich ums Verständnis der Situation, ihre logische Zergliederung und historische Erklärung die allergrößten Verdienste erwerben, weil kalte, aber große Wut ihnen die Kraft dazu verleiht.

Zwei der beeindruckendsten Beispiele hierfür (…) fand ich bei einem schwarzen Mann, der heroisch gegen den Rassismus gekämpft hat, und bei einer weißen Frau, die sich zeitlebens auf einem besonders ungemütlichen Terrain gegen männliches Dominanzgehabe behaupten konnte.

Das Übel verstehen

Mein erster Beleg stammt von einem der entschlossensten Feinde des rassistischen Unrechts in den USA des 19. Jahrhunderts, Frederick Douglass (1817/18–1895). Diesem schwarzen Bürgerrechtler war eine erschütternd nüchterne Bezeichnung für den Kern dieses Unrechts eingefallen, die Sklaverei: 1864 nannte er sie im Rahmen einer knappen Analyse ihrer Funktion beim Aufstieg der USA zum modernen Staat ein »Baugerüst« der »erhabenen Struktur« dieses Staates. Eine Maschinerie, die ungezählte Leiber zerbrochen, unermessliches Leid verursacht hatte, sollte ein »Baugerüst« sein? Sklaverei, dieses »Scaffolding«, schrieb Douglass, sei eine Vorrichtung, welche die Gründerväter der neuen Nation nicht rasch genug beseitigt hätten, auch wenn ihnen wohl klar gewesen sei, dass dieses Gerüst »beseitigt werden muss, sobald der Bau steht«.

Eine Unterdrückungseinrichtung mit der Kälte und Ruhe anzusehen, die darin ein »Baugerüst« erkennen kann, dürfte nicht vielen gelungen sein, die im Kampf um die Rechte der Versklavten standen. Douglass bewies damit einen Weitblick, der sich sogar als Vorhersage des historischen Moments im Sommer 2016 auslegen lässt, in dem Michelle Obama, die Gattin des ersten schwarzen Präsidenten der USA, davon sprach, was für sie das deutlichste Sinnbild historischen Fortschritts sei: die Tatsache, dass das Weiße Haus, der repräsentative Sitz des Präsidenten, einerseits einst auch mittels Sklavenarbeit errichtet worden war, und andererseits rund 150 Jahre später im selben Haus jemand das höchste Amt des Staates wahrnahm, in dem er seinerzeit nicht einmal die primitivsten Bürgerrechte hätte genießen dürfen.

Mit dem Satz vom Baugerüst war indes mehr als eine Prophetie ausgesprochen, nämlich ein Gedanke, der Douglass und andere seiner Geisteshaltung von der Idee Abstand nehmen ließ, die Nachfahren der Menschen, welche die grauenvolle und mörderische Verschleppung überlebt hatten, mit der rechtlose Arbeitskräfte nach Amerika gebracht worden waren, sollten in die Herkunftsländer ihrer Familien zurückkehren. Douglass hielt statt dessen dafür, sie sollten ihr Glück in dem Land machen dürfen, das sie mit aufgebaut hatten. Dessen Reichtum war auf ungerechte Weise entstanden, aber da er nun einmal erwirtschaftet worden war, sollte der Zwang aufhören.

Notwendige Frustration

Mein von heißer Wut beherrschter Mitschüler hätte das Wort »Baugerüst« wohl eine obszöne Verharmlosung gefunden. In dem sorgfältig konstruierten Argument, das Douglass vorbrachte, wies das Wort jedoch auf eine historische Entwicklung hin, um klarzustellen, dass Gründe, die ein Unrecht scheinbar rechtfertigen, weil sie es objektiv bedingen, im Verlauf der Geschichte entfallen können, und dass man die Chance, in diesem Moment das Unrecht abzuschaffen, nutzen muss. Nichts anderes meint Friedrich Engels mit seinem berühmten Satz »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit«: Wer frei sein will, muss die Bedingungen kennen, die eine vorhandene Unfreiheit ermöglicht haben, und dann diejenigen, die nicht (mehr) notwendig sind, von den andern trennen, um das nicht Notwendige abzuschaffen.

Im selben Jahr, in dem Douglass den Satz vom Baugerüst verfasste, schrieb Marx einen offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln (1809–1865). Der musste damals einen Bürgerkrieg zur Bewahrung seines föderalen Flächenstaats führen. Die Herrschenden im Süden wollten ihre Sklaven behalten, während Lincoln im Sinn hatte, jenen Entrechteten mehr (wenn auch längst nicht alle) Bürgerrechte zuzugestehen.

Der Brief, den Marx dem Präsidenten schrieb, versicherte diesen der Bereitschaft der Arbeiterbewegung in Europa, ihren Teil zu seinem Sieg beizutragen. Marx bot nichts Geringeres an als die Disziplin der kalten Wut dieser Arbeiterbewegung, die Bereitschaft, die Zähne zusammenzubeißen und eigene Nachteile zu ertragen, die der Kampf gegen das Unrecht mit sich bringt, den andere anderswo führen.

Außer vernünftiger Bestandsaufnahme der Lage und Geduld bei der Arbeit an deren Veränderung verlangt die Abkühlung der Wut ja oft weitere Frustrationen von den kalt Wütenden – vor allem, dass sie nicht nur erkennen, was notwendig ist an ihrer Lage und was nicht, sondern auch aus­halten, was am Übergang vom Schlechten zum Besseren unangenehm, aber nun mal ebenfalls notwendig ist. Im Fall der Solidarität mit den Sklaven hieß das für europäische Ar­beiter zum Beispiel das Ertragen vorübergehender Baumwollknappheit. Billige Baumwolle hatte es für europäische Besitzlose nur gegeben, solange die Sklaven auf den Baumwollplantagen schufteten. Aufgeklärt über diese Zusammenhänge, schrieb Marx an Lincoln also unter anderem zwei wichtige Sätze – einen sehr langen und einen weniger langen.

Der lange lautet: »Als die Oligarchie der 300.000 Sklavenhalter zum erstenmal in den Annalen der Welt das Wort Sklaverei auf das Banner der bewaffneten Rebellion zu schreiben wagte; als auf dem selbigen Boden, dem kaum ein Jahrhundert vorher zuerst der Gedanke einer großen demokratischen Republik entsprungen war, von dem die erste Erklärung der Menschenrechte ausging und der erste Anstoß zu der europäischen Revolution des 18. Jahrhunderts gegeben wurde; als auf diesem selbigen Boden die Konterrevolution mit systematischer Gründlichkeit sich rühmte, ›die zur Zeit des Aufbaues der alten Verfassung herrschenden Ideen‹ umzustoßen, und ›die Sklaverei als eine heilsame Einrichtung – ja als die einzige Lösung des großen Problems der Beziehung der Arbeit zum Kapital‹ hinstellte und zynisch das Eigentumsrecht auf den Menschen als ›Eckstein des neuen Gebäudes‹ proklamierte; da begriffen die Arbeiter Europas sofort, selbst noch ehe sie durch die fanatische Parteinahme der oberen Klassen für den Konföderiertenadel gewarnt worden, dass die Rebellion der Sklavenhalter die Sturmglocke zu einem allgemeinen Kreuzzug des Eigentums gegen die Arbeit läuten würde und dass für die Männer der Arbeit außer ihren Hoffnungen auf die Zukunft auch ihre vergangnen Eroberungen in diesem Riesenkampfe jenseits des Ozeans auf dem Spiele standen.«

Der kürzere Satz zieht die Konsequenz aus dem langen: »Überall trugen sie darum geduldig die Leiden, welche die Baumwollkrisis ihnen auferlegte, widersetzten sich voll Begeisterung der Intervention zugunsten der Sklaverei, welche die höheren und »gebildeten« Klassen mit solchem Eifer herbeizuführen suchten, und entrichteten aus den meisten Teilen Europas ihre Blutsteuer für die gute Sache.«

Unrecht hat Gründe, der Kampf dagegen braucht Verstand, Geduld und die Bereitschaft, für die Abschaffung des Unrechts einen Preis zu zahlen – in diesen beiden Punkten waren Douglass und Marx sich einig. Genauso dachte und schrieb auch die Urheberin meines zweiten Belegs für den politischen Wert der kalten Wut: 1912 verglich Rosa Luxemburg (1871–1919) in ihrem Aufsatz »Frauenwahlrecht und Klassenkampf« die Vorherrschaft des Mannes in der Familie mit der Institution des angeblich von Gott gerechtfertigten und gesegneten Erbkönigtums – eine wechselseitige Auslegung zweier Sachverhalte, die damit keineswegs gerechtfertigt sein sollten: »Das Instrument des Himmels als tonangebende Macht des politischen Lebens und die Frau, die züchtig am häuslichen Herde saß, unbekümmert um die Stürme des öffentlichen Lebens, um Politik und Klassenkampf, sie beide wurzeln in den vermorschten Verhältnissen der Vergangenheit, in den Zeiten der Leibeigenschaft auf dem Lande und der Zünfte in der Stadt. In diesen Zeiten waren sie begreiflich und notwendig.«

Mein ungestümer Mitschüler hätte sich hier vermutlich über das Wörtchen »notwendig« aufgeregt. Luxemburg meinte es ernst: Notwendig ist ein König da, wo die soziale Welt in Stände gegliedert ist und zum Beispiel der Austausch zwischen den ländlichen Erzeugnissen des Feldes und den handwerklichen der Stadt nur dann stabil vonstatten geht, wenn es eine Instanz über den Landadligen einerseits und den Stadtbürgern andererseits gibt, die verhindert, dass das für alle überlebenswichtige Geschäft in einen Dauerstreit führt, der das Gemeinwesen zerreißt.

Analog hierzu führt, wo die Gesellschaft so arm ist, dass die Individuen dauernd jagen, säen, ernten, sammeln oder werkeln müssen, damit die Familie nicht verhungert, und daher so rückständig, dass keine verteilte Kinderbetreuung eingerichtet werden kann, weil jede Arbeitskraft fürs Überleben nötig ist, an der Arbeitsteilung zwischen Produktion und Reproduktion aus biologischem Elendspragmatismus nichts vorbei, wohl aber etwas darüber hinaus: die Erzeugung größeren gesamtgesellschaftlichen Reichtums. Allerspätestens der Kapitalismus hat diesen Reichtum hervorgebracht, eben der Kapitalismus, der auf jene »vermorschten Verhältnisse« folgte, indem er sie zunächst ökonomisch zerschlug und dann formaljuristisch beseitigte.

Nur dann, wenn man versteht, dass Douglass so wenig die Sklaverei entschuldigen wollte wie Luxemburg die Monarchie und das Patriarchat, versteht man ein drittes und ein viertes Zitat, die ich diesen beiden anfügen will, um endgültig zu Marx und seiner Lehre überzuleiten. Zunächst ein scheinbar enthusiastisches Lob der schon angedeuteten fortschrittlichen Mission des Kapitalismus: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.

Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist. Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. […]

Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolu­tio­näre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.«

Ein Unterton von Kritik ist vernehmbar, Hochachtung aber unübersehbar – und dann folgen, im selben Text, gar Töne, die man heute, wäre der Kontext unbekannt, vielleicht euro­zen­trisch nennen würde: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.«

Ich schrieb oben vom »Unterton von Kritik« und meinte damit Wendungen wie »die sogenannte Zivilisation« im letzten zitierten Abschnitt. Den Text, in dem das stand, schrieben Marx und Engels in Brüssel Ende 1847, ein Jahr vor einer revolutionären Erhebung in Europa, deren Scheitern das weitere Leben und Werk von Marx entscheidend prägte. Alles, was Marx vor diesem Text geschrieben hat, liefert die eine Hälfte des Kontextes, der die angeführten Stellen erklärt, und alles, was er danach schrieb, liefert die andere. Beide zu rekonstruieren, damit man das, was ich eben zitiert habe, als eines der größten Dokumente kalter Wut in der Menschheitsgeschichte verstehen lernt, ist der Zweck dieses Büchleins.

https://www.jungewelt.de/blogs/marx200/327141