13.01.2018 / 0

Mit Gott und Peitsche

Das Deutsche Reich war die viertgrößte Kolonialmacht der Welt. Vor allem in Afrika gingen Soldaten und Siedler mit brutaler Gewalt gegen die Einheimischen vor

Ulrich van der Heyden

Die Eroberung der überseeischen Welt durch Europäer ging von Anfang an mit mannigfachen Formen der Gewalt einher. Betrug, Drohungen und brutale Gewaltexzesse begleiteten den Kolonisierungsprozess. Seit Kolumbus 1492 Amerika entdeckt hatte, floss Blut, wurden Menschen versklavt, zur Zwangsarbeit und zu Abgaben verpflichtet, gedemütigt, getötet, vertrieben und übervorteilt. Alle europäischen Mächte, die sich mit Schwert und Feuer in Amerika, Asien, Australien, Afrika und in Ozeanien ihre Kolonialreiche, in der Regel abgesegnet durch die großen staatstragenden Kirchen, zusammenraubten, errichteten eine Zwangsherrschaft, die in Afrika erst ab 1960, dem »Afrikanischen Jahr«, beendet werden konnte. Allerdings war damit noch nicht die volle nationale Selbstbestimmung erreicht. Die Gewalt zur Aufrechterhaltung der sozialen Ungleichheit hält, wenn auch oftmals in modifizierter Form, nicht zuletzt befeuert durch den Kalten Krieg und neokoloniale Ausbeutungsmethoden, in einigen Gebieten der Erde bis heute an.

Gewalt war auch das Markenzeichen der Deutschen, die sich nach der sogenannten Berliner Kongokonferenz von 1884/85 an der Aufteilung des afrikanischen Kontinents beteiligten. Hier errichteten sie in Deutsch-Ostafrika (heute vornehmlich die Staatsgebiete von Tansania, Burundi und Ruanda), in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), in Kamerun und Togo ihre Herrschaft.

Kritik im Deutschen Reich

Über das spezifische Ausmaß sowie zum Vergleich der Gewaltmethoden in den deutschen Kolonialgebieten gibt es bisher nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen. Dies ist eine seit Jahren erhobene Kritik an der Historiographie. Mit einer komparatistischen Analyse der Methoden und Formen der überseeischen Herrschaftsausübung der europäischen Kolonialmächte war man ebenfalls zurückhaltend. Das trifft auch auf Forschungen zur Kolonialkritik in den europäischen »Muttergesellschaften« zu.

Dabei ging eine Welle der Empörung durch das Deutschland der Kaiserzeit, als die Gräuel im Kongo, die systematische Ausplünderung des Kongo-Freistaates, der sich quasi im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. befand, zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt wurden. Menschen mit abgehackten Händen waren wohl das typischste Symbol dieser Gewaltexzesse. Als diese durch die sich verbreitende Fotografie hierzulande bekannt wurden, verstärkte sich die Kritik am Kolonialismus bis hin zu dessen kategorischer Ablehnung. Aber nur die wenigsten sahen, dass diese Gräuel einem System entstammten, nach welchem auch die Deutschen ihre Kolonien verwalteten und das dort jeder auftretende Widerstand mit Gewalt unterdrückt wurde. Jedoch gab es schon damals Proteste gegen die Kolonialpolitik, was heute viel zu wenig wahrgenommen wird.

Drei unterschiedliche politische Gruppierungen traten gegen den Kolonialismus auf: erstens die Kritiker innerhalb der christlichen Missionsgesellschaften, die sich als »Anwalt der Eingeborenen« verstanden; zweitens liberale Politiker, die aus humanitären Gründen die Kolonialpolitik oder wesentliche Bestandteile davon in Frage stellten; und drittens Teile der Arbeiterbewegung, die sich unter dem politischen Dach der Sozialdemokratie organisierten.

Haltung der Sozialisten

Im Prinzip gab es schon bald nach dem Erwerb von Kolonialgebieten durch das Deutsche Reich Kritik aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) an einzelnen Erscheinungen der deutschen Kolonialpolitik. Am 26. Januar 1889 beispielsweise griff August Bebel den Kolonialabenteurer Carl Peters, der wegen seiner Grausamkeiten in Ostafrika als »Hänge-Peters« bekannt wurde, und dessen Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft im Deutschen Reichstag scharf an. Am 17. Februar jenes Jahres setzte er sich dort auch mit den kolonialbegeisterten Vertretern der Regierungsparteien auseinander und wies deren Argumentation zurück, dass Deutschland den überseeischen Kulturen die Zivilisation bringen müsse: »Meine Herren, was bedeutet denn aber in Wahrheit Ihre christliche Zivilisation in Afrika? Äußerlich Christenthum, innerlich und in Wahrheit Prügelstrafe, Weibermisshandlung, Schnapspest, Niedermetzelung mit Feuer und Schwert, mit Säbel und Flinte. Das ist Ihre Kultur. Es handelt sich um ganz gemeine materielle Interessen, ums Geschäftemachen und um nichts weiter!«

Bebel lehnte den Kolonialismus jedoch nicht grundsätzlich ab. Das zeigte sich in seiner Rede während der sogenannten Kolonialdebatte vom 1. Dezember 1906: »Kolonialpolitik zu treiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein; es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik betrieben wird. (…) Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften, wie es z. B. die europäischen Nationen und die nordamerikanische sind, zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als große Kulturmission zu unterstützen bereit sind.«¹

Die weitgehende Zurücknahme vorheriger Äußerungen sozialdemokratischer Politiker zum Kolonialismus hatte seine Ursache in der seit den 1880er Jahren verstärkt geführten Diskussionen um eine »sozialistische Kolonialpolitik«, einem Bestandteil des Revisionismus um den einflussreichen SPD-Politiker Eduard Bernstein. Die Befürworter des Kolonialismus innerhalb der Arbeiterbewegung machten sich einen damals allgemein diskutierten Grundsatz zu eigen, der davon ausging, dass es das »Recht der höheren Kultur« sei, den »unterentwickelten Kulturen« ihre vermeintlichen Errungenschaften zu bringen. Dies sei geradezu notwendig – auch unter Anwendung von Gewalt. Am konsequentesten widersprach Karl Kautsky solchen Auffassungen.

Zu den wenigen generellen Kritikerinnen des Kolonialismus in der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gehörte Rosa Luxemburg. Sie betrachtete ihn als einen immanenten Bestandteil des Imperialismus. Und August Bebel etwa kritisierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts vehement den Krieg gegen die Herero und Nama in der deutschen Kolonie Südwestafrika.

»Heia Safari«

In der Afrika- und Kolonialgeschichtsschreibung wurde die Tatsache, dass die deutsche Bevölkerung nicht durchweg kolonialbegeistert gewesen ist, bislang wenig beachtet.² Seltsamerweise spielten diese Themen, sieht man von einigen Arbeiten zur antikolonialen Haltung der deutschen Sozialdemokratie ab, bisher kaum eine Rolle. Wer sich mit der Geschichte der deutschen Kolonialismusforschung beschäftigt, wird feststellen, dass zuerst die DDR-Forscher an den Ende der 1950er Jahren von der Sowjetunion zurückgegebenen einschlägigen Archivbeständen arbeiteten. Damit wurde die »kolonialkritische Kolonialismusforschung« von Helmuth Stoecker, Walter Markov und anderen begründet. Als Standardwerke gelten bis heute der von Stoecker 1977 herausgegebene Sammelband »Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges«, das nach wie vor aktuelle Werk von Peter Sebald über »Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen ›Musterkolonie‹ auf der Grundlage amtlicher Quellen« (1988) und das mehrfach neuaufgelegte und auf Initiative der Vereinten Nationen in verschiedene Sprachen übersetzte Buch von Horst Drechsler »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« (1966). Letzterer hatte als erster Historiker den Kolonialkrieg in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord bezeichnet.

Erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann man sich auch in der BRD mit der deutschen Kolonialgeschichte kritisch auseinanderzusetzen. Den öffentlichen Anlass hierfür bot eine vom WDR produzierte und von Ralph Giordano erarbeitete TV-Dokumentation mit dem Titel »Heia Safari«, die bei den Kolonialverteidigern zu ablehnenden Reaktionen bis hin zu Randalen im Fernsehstudio führte. In den 1970er und 1980er Jahren beschäftigten sich nur wenige Historiker der damaligen Bundesrepublik mit der kolonialen Vergangenheit, in der DDR waren es vornehmlich Wissenschaftler an den Universitäten in Leipzig und Berlin sowie an der Akademie der Wissenschaften. Wenn auch weitgehend getrennt, konnten einige Kolonialverbrechen aufgearbeitet oder doch zumindest in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden. International anerkannte Ergebnisse wurden vorgelegt. Das hinderte jedoch später die aus dem Westen des dann vereinten Deutschlands kommenden Evaluatoren nicht, ihre Kollegen von den nunmehr neu ausgeschriebenen Stellen an den ostdeutschen Lehr- und Forschungsinstitutionen zu verdrängen.

Ein Jahrzehnt später begann dann geradezu ein Forschungsboom. Ausgehend von den USA wurden auch in Deutschland die postkolonialen Studien begründet.³ Seither ist eine kaum zu überblickende Anzahl von einschlägigen Forschungsarbeiten erschienen.

Krieg gegen die Herero und Nama

Die Ursachen des Krieges der deutschen Kolonialsoldateska gegen die Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 sahen einige führende Sozialdemokraten in der Existenz des kolonialen Ausbeutungssystems. Die meisten SPD-Politiker schienen nunmehr den verbrecherischen Charakter der mit Gewalt ausgeübten Kolonialherrschaft erkannt zu haben: »Im Grunde genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz.«4 Die Kritik August Bebels gipfelte in dem Vorwurf, dass die Methoden der Kolonialpolitik auch bald die Innenpolitik bestimmen könnten: »Das ist die Politik, mit der Sie Tag für Tag noch einen großen Teil Ihrer eigenen Landesangehörigen behandeln.«

Was war geschehen? Die durch die Kolonialherrschaft hervorgerufenen Existenzängste der afrikanischen Bevölkerung hatten zu einem Aufstand geführt, der im Januar 1904 mit dem Angriff der Ovaherero unter Samuel Maharero auf deutsche Einrichtungen und Farmen begann. Da die »Schutztruppe« damit nicht gerechnet hatte, entsandte die Reichsregierung umgehend Verstärkung. Die von Generalleutnant Lothar von Trotha befehligte, 15.000 Mann umfassende Truppe, schlug den Aufstand der Herero bis zum August 1904 blutig nieder. Ein großer Teil der Herero floh daraufhin in die Omaheke-Wüste, in der es kaum Wasser gab. Von Trotha ließ den Landstrich abriegeln und Flüchtlinge von den wenigen Wasserstellen verjagen. Tausende Herero mitsamt ihren Familien und Rinderherden verdursteten.

Der grausame Krieg zur Unterwerfung der Herero trieb auch die Nama unter ihren Führern Hendrik Witbooi und Jakob Morenga zur Rebellion. Sie begannen einen Guerillakrieg. Hendrik Witbooi, das Oberhaupt der Nama, hatte sich über die deutsche Kolonialverwaltung in einem Brief beschwert: »Der Deutsche (…) führt Gesetze ein, (…) (die) völlig unmöglich sind, unhaltbar, unerträglich, undankbar und grausam. (…) Er züchtigt Menschen auf schändliche und grausame Weise. Wir, die er für dumm und unintelligent hält, haben niemals menschliche Wesen auf so erbarmungslose und unangebrachte Art behandelt wie er, der Menschen auf den Rücken legt und ihnen auf den Bauch und zwischen die Beine prügelt, Männer wie Frauen, von denen (…) keiner solch eine Strafe überleben kann.«

Im März 1908 mussten die Nama aufgeben. Zu überlegen waren die militärtechnischen Möglichkeiten der Kolonialtruppe. Auch die Herero hatten sich unterworfen. Von der geschätzt 60.000 bis 80.000 Personen zählenden Ethnie lebten 1911 nur noch 20.000. Nach Abschluss der Kampfhandlungen wurden die Herero und Nama in von den Briten abgeschaute Konzentrationslager gesperrt, in denen annähernd jeder zweite Insasse an Krankheiten und Hunger verstarb. Es wird geschätzt, dass beim Völkermord in Deutsch-Südwestafrika etwa 40.000 bis 60.000 Herero sowie rund 10.000 Nama ums Leben kamen.

Infolge des langwierigen und kostenaufwendigen Kolonialkrieges kam es im politischen System des Deutschen Reichs zu einer Krise. Im Reichstag sollte deshalb ein Nachtragshaushalt die rücksichtslose Kriegführung finanzieren. Die SPD und Teile der Zentrumspartei weigerten sich. Die Änderung am Budget wurde abgelehnt, der Reichstag daraufhin aufgelöst, und Neuwahlen wurden angesetzt. In einem bisher kaum gekannten Ausmaß an nationalistischer Propaganda versuchten die Vertreter der großbürgerlichen und junkerlichen Parteien, sekundiert und angespornt von prokolonialistischen Organisationen, für ein »hartes Durchgreifen« im Krieg gegen die aufständischen Afrikaner Stimmung zu machen. Ein Teil der deutschen Bevölkerung geriet in einen Taumel der Kriegsbegeisterung und des Chauvinismus. Mit den sogenannten Hottentottenwahlen am Beginn des Jahres 1907 hoffte Reichskanzler Bernhard von Bülow, eine ihm genehmere Zusammensetzung des Reichstags zu erreichen. Sein Ziel war, SPD und Zentrum in einer groß angelegten Kampagne als kolonialfeindlich, antinational und somit als Vaterlandsverräter abzustempeln und gleichzeitig einen zuverlässigen regierungsfreundlichen Block aus konservativen, nationalliberalen und liberalen Abgeordneten zu schaffen. Trotz intensiver gegen sie gerichteter Hetze gewann die SPD die Wahl zwar in absoluten Zahlen. Aber eine undemokratische Wahlkreiseinteilung sowie der Zusammenschluss konservativer Parteien zu einem Wahlbündnis im Falle von Stichwahlen verringerte die Anzahl der Abgeordneten der SPD im Reichstag dramatisch von 81 auf 43. Das Zentrum blieb stabil.

Den Misserfolg bei den Wahlen von 1907 konnten viele sozialdemokratische Abgeordnete nicht vergessen. Er sollte nicht unerhebliche Bedeutung für deren Verhalten im August 1914 haben: Um nicht erneut des Vaterlandsverrats geziehen zu werden, stimmten sie nunmehr fast geschlossen für die Kriegskredite.

Der Völkermord an den Herero- und Nama war nicht das einzige Kolonialverbrechen des deutschen Kaiserreichs. In allen vier deutschen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent setzten die aus dem Reich in die Tropen gereisten neuen Herren, die in ihrer Heimat oft genug gescheiterte Existenzen waren, ihre vermeintlichen Ansprüche mit Gewaltmaßnahmen durch. In Erinnerung ist dort bis heute der Ausspruch: »Und noch einer für den Kaiser!« Damit wurde bei den Prügelstrafen ein zusätzlicher Peitschenhieb zu »Ehren des Kaisers« angekündigt. Ziel aller Gewaltmittel war letztendlich der Raub des Landes der Einheimischen. Mit der Ausbeutung der dort lebenden Menschen sollten die für die koloniale Verwaltung notwendigen Finanzmittel durch Steuern und Zwangsarbeit erbracht werden. Nach dem Motto »Teile und herrsche« wurden die Streitigkeiten unter den indigenen Herrschern ausgenutzt und Rivalitäten zwischen ethnischen Gruppierungen geschürt.

Maji-Maji-Aufstand

Neben dem Krieg gegen die Herero und Nama stand damals auch der Maji-Maji-Krieg im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Arbeitszwang und Willkür waren die Hauptursachen für dessen Ausbruch. Eine Allianz von Angehörigen afrikanischer Ethnien erhob sich von 1905 bis 1907 im Süden der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Der bewaffnete Widerstand, einer der größten Kolonialkonflikte in der Phase der Eroberung Afrikas, endete mit einer verheerenden Niederlage. Die Mehrheit der Getöteten starb allerdings nicht durch Gewehrkugeln, sondern verhungerte, weil die deutsche »Schutztruppe« Felder und Dörfer niederbrannte. Ganze Landstriche wurden so entvölkert. Schätzungen zufolge starben bis zu 300.000 Menschen. Obwohl in der DDR die ersten diesbezüglichen Forschungen schon Anfang der 1960er Jahre veröffentlicht wurden, ist dieser Krieg noch immer nicht wirklich Teil der deutschen »Erinnerungskultur«.

Noch weniger bekannt ist, wie die Deutschen in Kamerun ihre Macht durchsetzten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass zuweilen bis in die jüngste Zeit die Errichtung und Durchsetzung der dortigen Kolonialherrschaft beschönigt wird. Weil seit etwa 1907 eine Korrektur der Herrschaftsmethoden erfolgte, ist gar von einer »humanen Kolonialpolitik« die Rede. Nicht mehr blinde Gewalt sollte im Mittelpunkt der Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Herrschaft stehen, sondern effektive Ausbeutung. Der Nestor der deutschen Kolonialhistoriographie, Helmuth Stoecker, erklärte dies mit der Tatsache, dass nunmehr die Aufteilung der Erde unter den imperialistischen Großmächten abgeschlossen gewesen sei und »eine intensive Ausbeutung des Kolonialbesitzes« einsetzte.

Doch die Ausbeutung der Kameruner Bevölkerung auf den Plantagen, beim Straßen- und Eisenbahnbau war eine räuberische Praxis. Außerökonomischer Zwang spielte dabei eine bedeutende Rolle. Die zukünftigen Arbeitskräfte wurden durch Alkohol gefügig gemacht, die Häuptlinge bestochen. Die Landräuber gingen mit rücksichtsloser Gewalt vor, die Sterblichkeit unter den Arbeitern nahm riesenhafte Ausmaße an. Die jährliche Todesrate lag 1913 unter den Eisenbahnarbeitern bei 13, ein Jahr später bei 16 Prozent. Bereits die Strapazen des Marsches zu den Baustellen überlebten viele der oftmals aneinander gefesselten Arbeiter nicht. In einer der ersten kolonialkritischen Untersuchungen, die in der DDR erschienen, heißt es hierzu: »Hungerlöhne, übermäßig lange Arbeitstage, ungenügende Ernährung, mangelhafte Unterkünfte, Frauen- und Kinderarbeit, ein zerrüttetes Familienleben, ein früher Tod, Prügel- und Kettenstrafen – das war das Los der Arbeiter in Kamerun.«5 Solche Formen der Ausbeutung und Unterdrückung verbunden mit Methoden der Vertreibung großer Teile der afrikanischen Bevölkerung von Grund und Boden führten zu passivem und auch aktivem Widerstand. Die Kolonialregierung reagierte: Zwischen 1906 und 1914 erhöhte sich die Anzahl der Strafurteile von jährlich 3.150 auf 11.229; die Zahl der Gefängnisstrafen stieg von 3.516 auf 5.452 und die der Prügelstrafen von 924 auf 4.800 im Jahr 1909.

Zur Wahrheit gehört auch der Hinweis, dass die deutschen Kolonialsoldaten nicht besonders zahlreich waren, im Jahre 1900 waren nur 15 deutsche Offiziere und 23 Unteroffiziere in Kamerun stationiert. Die Majorität der Kolonialtruppe machten sogenannte Askaris, einheimische paramilitärische Polizeikräfte, und zum Teil in anderen europäischen Kolonien angeheuerte afrikanische Truppen aus. Sie standen, während des Ersten Weltkrieges auf fast 10.000 Mann aufgestockt, alle unter deutschem Befehl.

»Musterkolonie« Togo

Die flächenmäßig kleinste afrikanische Kolonie des deutschen Kaiserreichs war Togo. Das Land galt als »Musterkolonie«, weil man es so stark ausbeuten konnte, dass die dort niedergelassenen Händler, Farmer, Beamten und sonstigen Deutschen kein Verlustgeschäft machten und der Staatshaushalt nicht belastetet wurde. Als wenn ein Kapitalist je einen Pfennig investiert hätte, der nicht Gewinn versprach! Die finanziellen »Verluste« in den anderen deutschen Kolonien trugen die Steuerzahler zu Hause im Reich, also vor allem die Arbeiter.

Trotz Gewaltanwendung bei der militärischen Unterwerfung und bei der Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft erhob sich die einheimische Bevölkerung in Togo nicht. Der Historiker Peter Sebald schreibt: »Es ist festzustellen, dass das Kolonialregime auf allen Gebieten scharfe Konflikte mit der Bevölkerung verursachte. Wenn es nicht (…) zu größeren Aufständen kam, dann besonders, weil die fortgeschrittenere gesellschaftliche Entwicklung der afrikanischen Bevölkerung (…) den deutschen Kolonialismus zur Anwendung differenzierterer Methoden veranlasste.«6 Die deutsche Kolonialverwaltung arbeitete deshalb eher mittels Repressionsmaßnahmen, die von der Justiz abgesichert wurden. Die Zahl der Strafurteile stieg von 1.072 im Jahre 1901/02 auf 6.009 im Jahre 1911/12, die der offiziell verhängten Prügelstrafen von 162 auf 733 im gleichen Zeitraum. Nicht zu unterschätzen ist der andauernde passive Widerstand: Einzelne Personen, zuweilen auch ganze Dörfer, wanderten in die Nachbarkolonien ab.

Ob subtil oder direkt, spontan oder systematisch: Gewalt wandte die deutsche Kolonialadministration in allen von ihr unterworfenen Gebieten an, denn nach dem wie auch immer vonstatten gegangenen Landerwerb ging es darum, die Bevölkerung, die bislang von der Subsistenz- und Naturalwirtschaft gelebt hatte, nun aber zur Produktion von Mehrwert angehalten werden sollte, zur Arbeit zu zwingen. Die Deutschen führten deshalb Kopf- und Hüttensteuern ein. Wer diese nicht entrichten konnte oder wollte, wurde zur Zwangsarbeit verurteilt. Große Teile der indigenen Bevölkerungen gerieten so in Unfreiheit. Auf Widerstand, sei er aktiv oder passiv gewesen, reagierte die deutsche Kolonialadministration ausnahmslos mit Gewalt. Wer da von »humaner Kolonialpolitik« spricht, will in die Irre führen.

Anmerkungen:

1 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 5 (Sitzung am 13.12.1906), Berlin 1906, S. 4057

2 Vgl. Ulrich van der Heyden: Antikolonialismus und Kolonialismuskritik in Deutschland. In: Joachim Zeller/Marianne Bechhaus-Gerst (Hg.): Deutschland postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit, Berlin 2018 (im Druck)

3 Vgl. Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002

4 Zit. n. Axel Kuhn (Hg.): Deutsche Parlamentsdebatten, Bd. 1: 1871 bis 1918, Frankfurt am Main 1970, S. 170

5 Hella Winkler: Das Kameruner Proletariat 1906–1914. In: Helmuth Stoecker (Hg.): Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft. Studien, Berlin 1960, S. 280

6 Peter Sebald: Togo 1900–1914. In: Helmuth Stoecker (Hg.): Drang nach Afrika. Die koloniale Expansionspolitik und Herrschaft des deutschen Imperialismus in Afrika von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Berlin 1977, S. 124

https://www.jungewelt.de/blogs/rlk2018/325796