10.01.2018 / 0

Den Aufruhr fördern

Über Voraussetzungen und Ziele linker Politik. Anmerkungen zur Debatte über die notwendigen Reaktionen auf den gesellschaftlichen Rechtsruck

Lorenz Gösta Beutin

Die AfD hat die Koordinaten der Republik nach rechts verschoben: Die immer neuen Asylrechtsverschärfungen sind ein Ausdruck davon. Die Grünen waren bereit, für die Regierungsbeteiligung sogar eine Obergrenze, genannt »atmender Rahmen«, zu akzeptieren. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer von Bündnis 90/Die Grünen bedient rassistische Stimmungen, indem er angebliche Flüchtlinge beim Schwarzfahren fotografiert. Außenminister Sigmar Gabriel fabuliert, Klimaschutz, Gleichstellung oder Datensicherheit seien Themen der »Postmoderne«. Die Sozialdemokratie müsse sich jetzt auch solchen wie »Leitkultur« oder »Heimat« zuwenden.

Diese Debatte macht vor der Partei Die Linke nicht halt: Oskar Lafontaine, ihr früherer Vorsitzender, meint, die Forderung aus dem Parteiprogramm nach »offenen Grenzen« sei eine des Neoliberalismus. Seine Partei betreibe damit einen »Nationalhumanismus«, weil sie die Flüchtlinge außerhalb der deutschen Grenzen nicht beachte. Ihre Flüchtlingspolitik sei »genauso falsch wie die der anderen Parteien«, sagte er Ende Dezember im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Grenzenlose Solidarität

Zwar ist die Ideologie des Neoliberalismus die der »Freiheit«. Diese gilt aber nur für die, die sich das leisten können. Sie gilt für den Warenverkehr, der für die Staaten des globalen Südens nicht viel mehr als die alte kolonialistische Ausbeutung bedeutet. Kurz: Die Freiheit gilt für das Kapital. Für die Nichtbesitzenden, die »Working poor« der Welt, sind dieser Freiheit Schranken gesetzt – durch den Mangel an Kapital oder brutal durch das Grenzregime an den Rändern der kapitalistischen Zentren. Das Gerede »Wir können ja nicht alle aufnehmen« zeugt von einem etatistischen Politikverständnis. Die Linke ist eben nicht in der Situation, entscheiden zu müssen, wer rein darf und wer draußen zu bleiben hat. Linkssein heißt heute, sich dieser inhumanen Logik zu entziehen, sich auf die Seite all derer zu stellen, die Beherrschte eines sich weiter brutalisierenden Systems sind. Deswegen ist die grenzenlose Solidarität die Stärke und nicht die Schwäche linker Bewegungen, zumal in einer Zeit, in der das Kapital längst global agiert.

Was also wäre den Erzählungen von rechts, dem gesellschaftlichen Rollback entgegenzusetzen? Es wäre eine linke Erzählung von Solidarität, von einer Gesellschaft, die Freiheit und Gleichheit miteinander verbindet. Das klingt theoretisch, ist aber letztlich sehr konkret: Zwar ist der rechte Diskurs in der modernen Aufmerksamkeitsökonomie der Medien enorm präsent. Doch sind es Millionen Menschen, die in den sozialen Netzwerken, in den Vereinen und Verbänden, in Bündnissen und Gewerkschaften und nicht zuletzt in der Linkspartei der Rechtsentwicklung etwas entgegensetzen.

Wenn von einer »Sammlungsbewegung« die Rede ist, sollte darunter nicht das Phantasma einer »linken Volkspartei« verstanden werden. Das hieße, dem Irrglauben aufsitzen, Bewegungen wären etwas, was von oben in Gang gesetzt werden könnte. Im Zweifelsfall wäre das Ergebnis nicht mehr als ein autoritärer Wahlverein. Für die Linkspartei müsste eine Sammlungsbewegung vielmehr bedeuten, sich noch stärker zu öffnen, offensiver die eigenen Zukunftsvorstellungen in die Öffentlichkeit zu tragen, mit dem Mut zu sagen, dass es in letzter Konsequenz eben um eine ganz andere Gesellschaft geht, jenseits des Kapitalismus. Die Partei müsste sich als organisierendes Zentrum innerhalb der gesamten Linken betrachten, die gesellschaftliche Gegenmacht bündelt und in die Parlamente trägt. In der aktuellen Debatte sind dazu zwei Fragen zu klären: In den Wahlauswertungen des letzten Jahres war die Rede davon, die Milieus der Wählerinnen und Wähler der Linkspartei hätten sich verändert. Weniger Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern mehr Menschen aus urbanen, modernen Milieus hätten sie gewählt. Wer so interpretiert, fällt auf die Verfechter des Neoliberalismus herein, der die Parzellierung der Gesellschaft perfektioniert hat. Sicher nimmt sich die selbständige »Crowdworkerin«, die 60 Stunden in der Woche auf sich gestellt am Laptop arbeitet, nicht unbedingt als Teil der »Arbeiterklasse« wahr. Auch Pflegekräfte sehen sich, nach ihrem Status befragt, eher als »Angestellte«, nicht als »Arbeiter«. Auch darin manifestiert sich die Spaltung der Gesellschaft.

Das Verbindende aufzeigen

Aufgabe linker Politik müsste sein, das Verbindende der Milieus aufzuzeigen, ohne deren Verschiedenheiten zu negieren. Das Gemeinsame: Keiner gehört zur Seite des Kapitals, keiner verfügt über die Produktionsmittel, alle sind in der ein oder anderen Weise von Lohnzahlungen oder Sozialleistungen abhängig, kurz: Sie befinden sich nicht auf der Seite der Herrschaft im Kapitalismus. Damit haben sie etwas gemeinsam mit der großen Mehrheit der Menschheit, ob in den kapitalistischen Zentren oder in der Peripherie. Sich dieses Bewusstsein wieder zu erarbeiten und es öffentlich zu vertreten, ist sicher nicht einfach angesichts der jahrzehntelang eingetrichterten neoliberalen Ideologie. Es sollte aber Ausgangspunkt jeder Frage nach politischer Organisierung sein.

Die zweite Frage ist die nach den Politikfeldern. Rechte agitieren gegen Geschlechtergerechtigkeit, den Kampf gegen den Klimawandel, Antirassismus und Solidarität mit den Flüchtlingen. Eine linke Politik, die in Haupt- und Nebenwiderspruch denkt, ist in gewisser Weise empfänglich für deren reaktionäre Argumentationen, wie sich an Gabriel und Lafontaine zeigt: Zentral seien allein Lohnpolitik und die klassische »Industriearbeiterschaft«, die anderen Themen seien im besten Fall Beiwerk, im schlimmsten Ausdruck von »Postmoderne« oder Neoliberalismus.

Dem entgegen müsste linke Politik bedeuten, jeden emanzipatorischen Aufruhr gegen Herrschaft, jede subversive Aktion zu unterstützen, die der Erkenntnis dient, dass diese Gesellschaft zum Besseren zu verändern ist, dass ein Leben jenseits kapitalistischer Wertvergesellschaftung erstrebenswert ist: Die Kämpfe um Klimagerechtigkeit, ob sie in Peru oder Indonesien oder im Hambacher Forst bei Köln ausgetragen werden, tragen in sich den Kern der Systemveränderung: Dass es so nicht weitergeht mit dem ungebremsten Wachstum, mit der absoluten Dominanz der Profitlogik, dass nur internationale Solidarität und entschiedenes Handeln dazu führen, dass diese Menschheitsfrage positiv entschieden werden kann; dass längst mehr Menschen vor den Folgen des Klimawandels fliehen – das alles erweitert in notwendiger Weise den Diskurs zur Flüchtlingspolitik. Hier ist längst deutlich, dass Menschen nicht allein vor individueller Verfolgung flüchten, sie verlassen ihre Heimat aufgrund von Hunger in Folge der globalen Erwärmung und einer Exportpolitik, an denen auch deutsche Konzerne und der deutsche Staat einen erheblichen Anteil haben, sie fliehen vor Bürgerkriegen und vor unhaltbaren Zuständen. Solidarität mit den Flüchtlingen bedeutet, sich gegen all diese Fluchtursachen zu wenden. Deutsche Wirtschaftsinteressen werden global abgesichert durch Auslandseinsätze, durch Waffenlieferungen in die Kriege dieser Welt. Wenn sich in Deutschland die Schere zwischen arm und reich weiter öffnet, so geschieht das global in unermesslicher, nie dagewesener Form. Dabei besitzen acht Männer soviel Geld wie 3,6 Milliarden Menschen. Frauen erledigen zwar laut UNO zwei Drittel der weltweiten Arbeit, beziehen aber nur zehn Prozent des globalen Einkommens und verfügen nur über ein Prozent des gesamten Eigentums. Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zeigt sich global noch brutaler als auf nationaler Ebene, auch von den Folgen des Klimawandels sind Frauen und Mädchen stärker betroffen als Männer.

Deutlich wird: Die Fixierung allein auf eines dieser Themen hieße, auf eine Vielzahl an Anknüpfungspunkten für linke Politik zu verzichten. Dagegen muss eine emanzipatorische Klassenpolitik in der Lage sein, all diese Ansätze für widerständige Theorie und Praxis miteinander zu verbinden: Antifaschistische und antirassistische Politik gehören genauso dazu wie Antimilitarismus und Friedenspolitik, wie der Kampf gegen die Kohleverstromung und für Klimagerechtigkeit, wie die Kämpfe um gute Arbeit und gute Löhne, gegen das Sanktionsregime von Hartz IV und für die Achtung der Menschenwürde sowie für eine queer-feministische Politik. Linke Praxis bedeutet, das Gemeinsame dieser Bewegungen gegen die Herrschaft herauszuarbeiten, ohne die Notwendigkeit des Handelns in diesen Bereichen in Frage zu stellen. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist, dass diese Kämpfe nicht allein im nationalen Rahmen ausgefochten werden, sondern ebenso auf europäischer Ebene und in allen Teilen der Welt. Deshalb ist, nein, muss internationale Solidarität Ausgangs- und Endpunkt jeder linken Politik sein.

https://www.jungewelt.de/blogs/rlk2018/325359