13.12.2017 / Feuilleton / Seite 1 (Beilage)

Was wirklich zählt

Sind wir eigentlich noch zu retten? Anregungen zur praktischen Weltanschauung

Peter Steiniger

Wenn die Welt so aussähe wie in den Katalogen der Reiseanbieter – es wäre einfach zu schön. Orte, an denen das Wasser nicht kristallklar ist, kommen gar nicht erst hinein. So lässt sich strahlend weißwaschen: In jeder Himmelsrichtung winken perfekte Urlaubsziele mit intakter, purer Natur und vielfältiger Kultur, wo alles einzigartig und echt ist, sich in völliger Balance befindet, wo magische Augenblicke in Hülle und Fülle winken. Für jeden steht demnach eine sonnenbeschienene Oase zum Glücklichsein bereit, mit vielen Ex­tras. Ist das nicht fabelhaft?

Unsere Erde ist ein schöner Planet. Wie für uns gemacht. Und mit Ersatz sieht es eher mau aus. Von perfekter Balance sind wir als seine angeblich vernunftbegabten Bewohner allerdings himmelweit entfernt. Milliarden Menschen stehen ohne das Nötigste zum Leben da. Die meisten schuften für den Reichtum einiger weniger. Ohne Gnade ausgebeutet wird die Natur, politische Konflikte will man mit Waffen lösen. Da heißt es, sich beeilen mit ultimativen Erlebnissen.

Klappern gehört zum Geschäft, Retusche zur Werbung. Wir sehnen uns nach den ausgeschmückten Stories, die da erzählt werden. Die wirklich gefährlichen Fälscher sind andere. Ihre Künste entwickelten sie bereits lange vor dem Eintritt ins »postfaktische Zeitalter«. Lange vor dem twitternden Demagogen, der heute im Weißen Haus sitzt. Politiker und Bosse bedienen sich seit jeher rhetorischer Finten, um zu verführen und zu punkten. Mythen und Märchen sind durchschaubar. Dazu braucht es Vernunft. Doch die hat einen schweren Stand. Dass Ressentiments und die dazugehörigen »gefühlten Wahrheiten« so wirksam sind, liegt tatsächlich am Zeitalter. Um das herrschende ungebremste Profitdenken durch Alternativen abzulösen, um uns und unseren Planeten zu retten, werden alle Kräfte der Aufklärung gebraucht.

Eine gute Schule, um zu lernen, dass das Fremde gar nicht so fremd ist, dass die andere Kultur bereichert, kann das Reisen sein. Mittlerweile hat sich der Tourismus zu einer der größten Industrien entwickelt, ist ein Massenphänomen. Das hat Konsequenzen für das Verhältnis von Mensch und Umwelt, von Arbeit und Kapital. Einem großen Teil der Weltbevölkerung wird das Recht auf Urlaub und Erholung weiter vorenthalten. Er ist hier höchstens als dienende Klasse beteiligt. In allen Weltgegenden, auch den Dienstleistungsgesellschaften des Nordens, setzt man immer stärker auf die Reiseindustrie. Man vermarktet sich, putzt sich raus, zumindest die Fassade. Immer mehr sterile Ferienhaussiedlungen, die potemkinschen Dörfer unserer Zeit, schießen aus dem Boden.

Der Motor läuft bereits heiß. Für die Tourismusmagnete ist ihre Anziehungskraft Segen und Fluch zugleich. Letzteres spürt man gerade auf dem Wohnungsmarkt. Ferienwohnungen sind lukrativer als Mietwohnungen. Portugal verdankt seiner Beliebtheit als Reiseland eine Wiederbelebung der Wirtschaft. Dank einer von links gestützten Regierung spiegelt sich das auch im Sozialen positiv wider. Doch nicht nur an den Aussichtspunkten auf das schöne Lissabon steht man sich auf den Füßen. Vom Kuchen wollen viele etwas abbekommen. Autorikschas verstopfen bereits die Altstadtgassen. Nun sollen Gesetze her.

Auch auf Berlins Straßen und Plätzen herrscht immer dichteres Gedränge. Europas Partymetropole lädt ein, und die Jugend der Welt hört den Ruf. Im Nahverkehr ist man stets eng beieinander, rund um die Uhr. Falls überhaupt was geht, keine Störung vorliegt. Die Fahrgastzahlen steigen und die Ticketpreise mit. Da leidet die Feierlaune der Einheimischen. Also, nichts wie weg hier. Unsere Autoren nehmen Sie mit auf Reisen, die bilden, die eher nicht aus dem Katalog stammen. Ohne leere Glücksversprechen. Denn das echte Glück, das liegt oft ganz nah.

Was uns verbindet – Brücken sind der Gegenstand der Bilder in dieser Beilage. Ohne Brücken – aller Art – kommen wir nicht zueinander. Sie sind strategische Punkte, sie machen Hindernisse passierbar. Wo Brücken abbrechen, haben es die Menschen schwerer. Auch das Reisen ist eine Brücke: zwischen den Menschen und ihren Kulturen.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/321701