31.05.2017 / Feuilleton / Seite 1 (Beilage)

Macht Wissen Angst?

Der Zustand der Welt bereitet vielen Menschen Sorgen. Sollen wir sie mit unseren Kindern teilen – zumindest literarisch?

Nelli Tügel

Den Satz habe ich zum Beispiel nach den Präsidentschaftswahlen in den USA oft gehört und auch selbst gedacht: »Was soll ich denn jetzt meinen Kindern sagen?« Nun mag man erwidern, dass die Wahl der Kriegstreiberin Hillary Clinton dem Nachwuchs ebenfalls schonend hätte vermittelt werden müssen. Wahr ist aber auch: Viele Eltern, die es stets als integralen Bestandteil der Erziehung betrachtet haben, mit Kindern über Politik und Zeitgeschehen zu sprechen, sind zunehmend verunsichert. Fördern wir mit dem offenen Reden über aktuelle Ereignisse die Entwicklung selbstbewusster junger Menschen oder doch eher Angststörungen? Ist das noch politische Bildung oder längst Überforderung?

Mir ist bewusst, dass es ein Privileg ist, sich diese Fragen überhaupt stellen zu können. Viele können es nicht, weil sie zum Beispiel unmittelbar betroffen sind von Krieg oder Armut. Aber haben Kinder nicht dennoch ein Recht darauf, von dem Wissen um Terror, Klimawandel und zwielichtige Politiker verschont zu bleiben?

Eine erste Erkenntnis ist: Sie kriegen es ohnehin mit. Denn Kinder verfügen über sichere Antennen, wenn es darum geht, Sorgen und Verunsicherungen bei Erwachsenen zu spüren. Zudem gibt es vor den Nachrichten nur schwer ein Entkommen. Im Berliner U-Bahn-Fernsehen laufen nonstop »News«. Beim Vorbeigehen an Zeitungskiosken künden schrille Schlagzeilen von den neuesten Schrecknissen. »Wir sind im Krieg«, titelte Bild nach den Anschlägen in Brüssel im März 2016 in erstleserfreundlichen Großbuchstaben – und »Angst«, als es Ende des Jahres Berlin traf. Und dann ist da noch die Schule. »Was in der Welt passiert, spiegelt sich bei uns im Klassenzimmer wider«, sagte eine Lehrerin kürzlich auf einem Elternabend.

Das Thema Angst spielt auch in aktuellen Kinder- und Jugendbüchern eine wichtige Rolle. Dabei werden nicht nur die vermeintlich klassischen Kinderängste vor Dunkelheit, Gespenstern oder Monstern thematisiert, sondern eben auch jene, die aus dem Wissen um den Zustand der Welt resultieren.

Eines der spannendsten Duos der neueren Kinderliteratur ist zum Beispiel das Gespann Rico und Oskar aus der gleichnamigen Trilogie von Andreas Steinhöfel, die zwischen 2008 und 2011 erschienen ist und die im Herbst durch ein viertes Buch erweitert wird. In den – inzwischen verfilmten – Büchern geht es um zwei Berliner Jungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Rico, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, besucht ein Förderzentrum und bezeichnet sich selbst als »tiefbegabt«. Er ist ein ziemlich glückliches Kind, kommt mit anderen Menschen gut klar und geht neugierig durch die Welt.

Sein Freund Oskar ist hochbegabt, superschlau, aber voller Ängste. Weil er sich gut auskennt mit Umweltverschmutzung, miesen Arbeitsbedingungen in Madagaskar, Giften in Lebensmitteln oder Verkehrsunfallraten, wittert er überall Gefahren und entwickelt immer neue Marotten. »Mir fiel ein Unterschied zwischen uns auf«, sinniert Rico im ersten Teil der Reihe über seine neue Bekanntschaft. »Ich habe fast dauernd gute Laune, weiß aber nicht so viel. Oskar wusste jede Menge merkwürdiger Dinge, aber seine Laune war dafür im Keller. Bestimmt ist das so, wenn man sehr schlau ist. Es fallen einem zu allen schönen Sachen auch gleich noch ein paar schreckliche ein.« Was Oskar hilft, ist die Freundschaft zu Rico. Sie verschafft ihm etwas mehr Gelassenheit und Zuversicht.

Ein weibliches Pendant zu Oskar ist Majken, Protagonistin des Romans »Tausend Sorgen sind zu viel für einen Tag« von Cilla Jackert, der in deutscher Übersetzung Ende 2016 erschienen ist. Auch Majken ist über die Weltlage bestens informiert und ihrer Mutter sowie den Lehrern argumentativ oft überlegen. Ihre Fähigkeiten nutzt sie vor allem dazu, Listen über Todesursachen anzulegen, aktuelle Ernährungsempfehlungen umzusetzen und die Menschen um sich herum zu belehren. Wie Oskar kann Majken mit Gleichaltrigen nicht gut umgehen und pflegt nur wenige soziale Kontakte. Beide blicken äußerst skeptisch auf Erwachsene. Bei Oskar hat das viel damit zu tun, dass er mit einem unfähigen Vater geschlagen ist. Majken wiederum kann nicht verstehen, weshalb die Großen den Wahnsinn in der Welt zulassen.

Doch dabei bleiben die Geschichten nicht stehen. Sie handeln auch davon, dass junge Menschen durchaus in der Lage sind, eigene Strategien zu entwickeln, um mit ihrem Wissen und den daraus resultierenden Ängsten klarzukommen. In der »Rico und Oskar«-Trilogie wie auch in den »Tausend Sorgen ...« geschieht dies nicht durch Eskapismus, sondern indem Vereinzelung und Einsamkeit mit Hilfe von Freunden überwunden werden. Das zu lesen ist ermutigend – für Kinder ebenso wie für ihre verunsicherten Eltern.

Cilla Jackert: Tausend Sorgen sind zu viel für einen Tag. Aus dem Schwedischen von Maike Dörries, Carlsen Verlag, Hamburg 2016, 128 S., 10,99 Euro, ab 11 Jahren

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und die Tieferschatten sowie zwei Folgebände (… und das Herzgebreche sowie … und der Diebstahlstein), Carlsen Verlag, Hamburg 2008–2011, 224, 272 u. 336 Seiten, jeweils 12,90 Euro; Taschenbuchausgaben 6,99 (Band 1) bzw. 7,99 Euro (Band 2 und 3), für den Herbst ist angekündigt: ... und das Vomhimmelhoch, ab ca. 8 Jahren

https://www.jungewelt.de/beilage/art/310730