18.04.2017 / Kapital & Arbeit / Seite 1 (Beilage)

Wie arm ist die Schweiz?

Es ist an der Zeit, sich von einem Klischee zu verabschieden

Patricia D’ Incau

Trotz drastischer Unterschiede bei der Vermögensverteilung und auseinanderklaffender Lohnschere kommt das Gros der Schweizer Bevölkerung irgendwie über die Runden; die einen problemlos, die anderen gut, und bei den dritten reicht es gerade so bis zum Ende des Monats. Für mehr als 1,5 Millionen Einwohner sieht die Situation allerdings anders aus.

Laut der letzten Erhebung des Bundesamts für Statistik (BFS) hatten im Jahr 2014 rund 530.000 Menschen in der Schweiz ein Einkommen unter der Armutsgrenze, mehr als doppelt so viele galten als armutsgefährdet. Also fast jede siebte Person. Bei einem Teil der Betroffenen reichte das Geld nicht einmal für eine vollwertige Mahlzeit jeden zweiten Tag. Und die Spirale dreht sich weiter. Abwärts, wie es scheint. Mehr als zwei Jahre nach den letzten offiziellen Erhebungen vermutete Hugo Fasel, Direktor des Hilfswerks Caritas Schweiz, Ende 2016 gegenüber dem Schweizer Fernsehen (SRF): »In der Schweiz zählt man 600.000 bis 1.000.000 Hauptbetroffene.«

Was Armut heißt, ist in erster Linie Definitionssache. Laut der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ist arm, wem als Einzelperson nach Abzug der Kosten für Miete und Krankenversicherung pro Monat weniger als 1.000 Franken bleiben. Dieser Betrag ist nötig, um den Grundbedarf zu sichern, der in der Schweiz etwa bei den Nahrungsmitteln laut Eurostat durchschnittlich 72 Prozent höher liegt als in EU-Staaten. Arm ist oft, wer alleinerziehend ist, an Krankheit oder Invalidität leidet, eine ungenügende schulische Bildung oder keinen Berufsabschluss hat, in der Arbeitslosigkeit gelandet ist oder trotz eines Jobs nur über ein sehr geringes Einkommen verfügt. Letzteres betraf 2014 rund 123.000 Erwerbstätige, sogenannte Working poor. Das Armutsrisiko steigt zudem nach Alter, Geschlecht und Nationalität – oder anders gesagt: für Betagte, Frauen sowie Menschen ohne Schweizer Pass.

Trotz der Zahlen, die dem Bild von »Uns geht es doch allen gut« widersprechen: Das Wissen um Armut bleibt in der Schweiz größtenteils abstrakt, weil das Phänomen so gut wie unsichtbar ist. Weil der öffentliche Raum weiter kommerzialisiert und reglementiert wird, verschwinden Randständige und Menschen mit wenig Geld aus dem gepflegten Stadtbild; weil es sich nicht alle Eltern leisten können, ihre Kinder in den Sportverein zu schicken, droht ihnen der soziale Ausschluss; weil Migranten ohne Papiere abhängig von Dritten sind, landen sie in Rund-um-die-Uhr-Arbeitsverhältnissen; und weil Menschen, die vor dem persönlichen Ruin stehen, oftmals auch gesundheitliche und psychische Probleme haben, zurückgezogen leben. Kurzum: Wer wenig Geld hat, wird isoliert.

»Armut ist eine kontinuierliche Menschenrechtsverletzung«, sagt Branka Goldstein von der IG Sozialhilfe in Zürich. Sie begleitet Betroffene, unterstützt sie beim Gang zu den Ämtern, bei Krankheit oder Wohnungssuche – und weiß aus Erfahrung: Auf dem politischen Feld engagieren könnten sich die Betroffenen oftmals nicht. »Denjenigen, denen es am schlechtesten geht, fehlt die Kraft und die Gesundheit. Weil Armut mit einem hohen Stigma behaftet ist und Betroffene verfemt werden, versuchen zudem viele, ihre Armut zu verbergen«, so Goldstein.

Um einen weiteren Abstieg zu vermeiden, muss daher Aufklärung und Kritik von anderer Seite geleistet werden. Die vorliegenden Beilage will – mit Beiträgen von Soziologen, Juristen, Journalisten und Aktivisten – ihren Teil dazu beitragen. Die Dekonstruktion des Bilds vom »Uns geht es doch allen gut« ist nötig. Um so mehr, als aktuell im ganzen Land ein weiterer Sozialkahlschlag droht – unter anderem deshalb, weil der Staat den Unternehmen in den vergangenen Jahren ein Steuergeschenk in Höhe von bis zu 15 Milliarden Franken beschert hat.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/308345