22.02.2017 / Feuilleton / Seite 11

Kurven­diskussionen

Wiglaf Droste

Es war zu der Zeit, in der wir Matte bis zum Arsch trugen und wie jeder halbwegs beitrostene Mensch Mathe als Schulfach verabscheuten. Der Physik- und Mathelehrer, der wie immer seine berufstypische braune Cordhose anhatte, etwas, das trägt, wer in permanenter Bereitschaft lebt, gleichzeitig eine Urin-, Sperma- und Stuhlprobe abgeben zu müssen, stand an der Tafel und quakte etwas über »Kurvendiskussionen«.

Mit dem Thema kannten wir uns aus; leidenschaftlich diskutierten wir die Kurven von Gina Lollobrigida, Sophia Loren und Jayne Mansfield; arme magersüchtige Mädchen wie Twiggy taten uns leid, wir hätten sie gefüttert und bekocht, aber niemals angefasst; schließlich waren wir keine Päderasten wie ausnahmslos sämtliche älteren männlichen Heidi-Klum-Kucker.

Der Mathetyp laberte, rief Michael Wirtz auf, und der sagte wie im Ernst furztrocken: »Das ist die Antipinoxe der Kontromendrüse der Fallgeschwindigkeit in der Kurve.« Das saß, der Mathelehrer tat, was Mathelehrer immer und lebenslang tun sollten: Er war still, und wir konnten wieder hingebungsvoll die Kurven diskutieren, um die es wirklich geht.

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