11.01.2017 / 0

Eine Diktatur errichten

Staatschef Erdogan strebt eine »türkisch-islamische Synthese« an. Die beabsichtigte Einführung einer Präsidialverfassung dürfte den ohnehin schon drastisch eingeschränkten bürgerlichen Freiheitsrechten endgültig den Garaus machen

Peter Schaber

Die derzeitigen Verhältnisse in der Türkei werden am kommenden Samstag auch Gegenstand der XXII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt in Berlin sein. Selahattin Demirtas, Kovorsitzender der kurdischen Oppositionspartei HDP und derzeit in Haft, wird sich in einem Grußwort an die Teilnehmer der Konferenz wenden.(jW)

»Weißt du, für mich war meine Kindheit und Jugend in Istanbul immer etwas ganz Normales«, sagt der Übersetzer und Exiltürke Levent, als wir in Berlin zusammensitzen und über den jüngsten Anschlag des »Islamischen Staates« in der Türkei, den auf den Istanbuler Nachtclub Reina am frühen Morgen des 1. Januar, diskutieren. »Wir haben uns ganz normal verliebt, Politik gemacht, getrunken, gelernt – wie es wohl bei dir in Wien auch nicht anders war.« Er zieht an seiner Zigarette und macht eine kurze Pause. »Aber wenn ich heute Nachrichten von dort sehe, kommt es mir so surreal vor. Wie ein anderes Land, wie Pakistan vielleicht.«

Dem Fotojournalisten Mehmet geht es ähnlich. Er ist vor einigen Wochen aus Istanbul über die Balkanroute nach Deutschland geflohen. »Schon während der Gezi-Proteste habe ich gesehen, dass ein Staat, der sein eigenes Volk ermordet, nicht meiner sein kann. Ich kann ein Leben, in dem wir uns nicht frei artikulieren können, nicht akzeptieren.« Danach sei der Druck, auch auf ihn persönlich wegen seiner beruflichen Tätigkeit immer größer geworden. »Um zu überleben, hatte ich keine andere Chance als wegzugehen. Wegzugehen aus diesem Land, in dem jede Art von Unrecht ganz offen und ohne Scham begangen wird.«

Wie Mehmet und Levent denken viele Türken. Es sind vor allem drei große Gruppen von Menschen, die in Recep Tayyip Erdogans »neuer Türkei« nicht erwünscht sind und kaum noch Möglichkeiten haben, normal weiterzuleben. Zum einen handelt es sich um jene, die sich noch 2013 der von Millionen Menschen getragenen Protestbewegung gegen die Regierungspartei AKP, die unter dem Namen Gezi-Aufstand bekannt wurde, angeschlossen hatten. Zum anderen stellte Ankara nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 Zehntausende unter Generalverdacht, verfolgte und verhaftete sie als Mittäter oder Sympathisanten des geplanten Staatsstreichs, den Erdogan früheren Verbündeten aus der Bewegung des exilierten Imams Fethullah Gülen und kemalistischen Militärs anlastet. Und dann sind da noch die Kurdinnen und Kurden aus dem Südosten der Türkei. Ihre Städte wurden belagert, Wohnviertel beschossen, bombardiert, dem Erdboden gleichgemacht. Orte wie Nusaybin, Sirnak oder Cizre bieten ein Bild, das das an Aleppo erinnert. Die AKP-Regierung vertreibt die kurdische Bevölkerung absichtlich. Sie will deren Zusammenhalt und politischen Willen, demokratische Autonomie zu erkämpfen, brechen.

Erdogans »neue Türkei«

Viele Bürger der Türkei erkennen nach knapp eineinhalb Jahrzehnten AKP-Herrschaft ihr Land kaum wieder. Man muss keine romantisierende Haltung zu den ebenfalls erzreaktionären, repressiven, von den USA abhängigen Regierungen vor der Machtübernahme der AKP im Jahr 2002 einnehmen. Aber kaum je seit der Gründung der Republik Türkei im Jahr 1923 gab es wohl einen so rasanten und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassenden Wandel wie in den vergangenen Jahren.

Die »neue Türkei« Erdogans verkörpert jenes politische Konzept, dem die faschistische Rechte im Land den Namen »türkisch-islamische Synthese« gegeben hat: Das Türkentum ist das Fundament der Nation. Es kann zugleich nicht gedacht werden ohne den Islam sunnitischer Auslegung. Der ideale Türke ist gemäß dieser Vorstellung vor allem Nationalist und Muslim. In einer solchen Nation haben Kommunisten, liberale Demokraten, Schwule und Lesben, Aleviten, selbstbewußte Frauen und eine lange Reihe anderer Personengruppen keinen Platz – sie gelten als Gefährdung des Türkentums.

»Eine Nation – eine Fahne – ein Vaterland – ein Staat«, das skandieren AKP-Anhänger auf Kundgebungen. Personifiziert wird diese Nation durch den autoritär herrschenden Führer Erdogan, außenpolitisch strebt sie die Wiedergewinnung zumindest jener Gebiete des früheren Osmanischen Reiches an, die im Misaki Milli, dem Nationalpakt von 1920, formuliert wurde: Teile des Nordiraks, Syriens, Griechenlands und Bulgariens. Die ökonomische Grundlage bildet ein harter Neoliberalismus, der vor allem jenen Kapitalgruppen Geld in die Kassen spült, die sich mit der politischen Herrschaft der AKP arrangieren oder diese stützen.

Dieses innen- wie außenpolitische Programm ist – selbst für eine Partei mit relativ hoher Zustimmungsrate wie die AKP – ambitioniert. Denn in der Türkei gibt es durchaus einflussreiche gesellschaftliche Kräfte, die seiner Verwirklichung mal mehr, mal weniger konsequent Widerstand leisten. Deren Ausschaltung betrieb Ankara spätestens seit dem Gezi-Aufstand von 2013, bei dem sich Millionen Menschen gegen die AKP-Regierung auflehnten, immer aggressiver. Als Mitte 2015 der Friedensprozess mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) von der Regierung, die ihn schon seit längerem sabotiert hatte, endgültig beendet wurde, begann im Südosten der Türkei die Errichtung eines faschistischen Besatzungsregimes: Kurdische Städte wurden militärisch belagert, Wohnviertel mit Artillerie und Panzern angegriffen, Hunderte Zivilisten ermordet.

Befanden sich die kurdischen Gebiete ohnehin bereits im permanenten Ausnahmezustand, ergab sich im Juli 2016 für Erdogan die Chance das Regieren per Notstandsdekret auf das gesamte Land auszudehnen. Mit der Verhängung des Olaganüstü hal (Ausnahmezustand) erhielt die Verfolgung der gesamten linken wie bürgerlichen Opposition neue Dimensionen. Der Ausnahmezustand, der Anfang Januar erneut für drei Monate verlängert wurde, gewährt den Regierenden weitgehende Vollmachten: Grundrechte können eingeschränkt werden, der Präsident kann per Dekret am Parlament vorbei regieren. Die Versammlungsfreiheit ist ausgehebelt. Auch das Verbieten von Medienerzeugnissen oder Vereinen ist währenddessen leichter möglich.

Bereits bis Ende Oktober 2016 waren nach offiziellen Angaben 40.000 Menschen eingesperrt, 80.000 zumindest kurzfristig verhaftet und über 100.000 entlassen worden. Neuere Gesamtbilanzen gibt es nicht, aber inzwischen sind Tausende Menschen mehr von all dem betroffen. Alleine in der letzten Dezemberwoche wurden 1.604 Menschen wegen vermeintlicher Nähe zur PKK oder zur Gemeinde Fethullah Gülens (von der Regierung mit dem Kürzel FETÖ bezeichnet) eingesperrt.

Angriffe auf die Opposition

Die linke, der kurdischen Befreiungsbewegung verbundene Oppositionspartei HDP wurde von der Repression am härtesten getroffen. Nicht nur ihre beiden Parteivorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag befinden sich in Haft, sondern derartig viele Mitglieder und Funktionäre, dass die Partei kaum noch ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen kann. »In den vergangenen zwölf Monaten waren es etwa 10.000 Menschen, davon sind mehr als 5.000 immer noch im Gefängnis. Das, was hier geschieht, ist schlimmer als ein Parteiverbot«, erklärte der HDP-Parlamentarier Ziya Pir im Dezember 2016 gegenüber junge Welt. »Würde nur die Partei verboten, könnte man eine neue gründen. Aber wenn diese Verhaftungswellen so weitergehen, werden wir irgendwann einfach keine Mitarbeiter mehr haben.« »Es ist eine sehr schlimme Zeit. Momentan versuchen wir zu überleben. Aber wir werden uns nicht ergeben.«

In zahlreichen Gemeinden in den kurdischen Gebieten wurde die demokratische gewählte Stadtverwaltung entmachtet, Zwangsverwalter aus Ankara wurden eingesetzt. »Jetzt handelt der Staat viel offener kolonialistisch als zuvor«, sagt ein Angestellter der Stadtverwaltung Diyarbakirs, der anonym bleiben möchte, gegenüber jW. »Sie nehmen kaum noch Rücksicht darauf, was die Leute denken. Nur ein paar AKP-nahen Kurden schanzen sie Aufträge zu, um sie bei der Stange zu halten.«

Zahlreiche Vereine, darunter Hilfsorganisationen wie der Rojava Dernek, der die durch den Bürgerkrieg in den kurdischen Regionen Vertriebenen unterstützte, wurden geschlossen. Insgesamt wurden allein im vergangenen November 370 Nichtregierungsorganisationen verboten – erneut wegen angeblicher Nähe zu PKK, FETÖ oder der ebenfalls verbotenen linken militanten Partei DHKP-C. Anfang Januar folgte dann ein Dekret, das weiteren 83 Vereinen die Arbeit untersagte, darunter kurdische Fußballverbände und Sprachinstitute.

Konzentrierten sich die Angriffe bislang auf die linke und die kurdische Opposition, so mehren sich Zeichen, dass auch die zweitgrößte Fraktion im türkischen Parlament, die kemalistische CHP früher oder später zum Ziel der Attacken werden könnte. Zwar hatte diese sich nach dem gescheiterten Putschversuch bei der AKP angebiedert, gleichwohl scheint sie Erdogan ein Dorn im Auge zu sein. Regierungsnahe Blätter suggerieren wahlweise, die CHP pflege Verbindungen zur PKK, zur DHKP-C oder zur Gülen-Bewegung. Verhaftet wurde etwa Fatih Gürsul, ein hochrangiger Berater des Vorsitzenden der CHP, Kemal Kilicdaroglu. Das Ziel der AKP ist CHP und HDP zu marginalisieren, um gemeinsam mit der faschistischen MHP die Verfassungsänderung zur Etablierung der Präsidialdiktatur durchboxen zu können.

Massenverhaftungen

Zur Durchsetzung ihrer Machtambitionen geht die AKP durchaus strategisch vor und setzt Mechanismen in Bewegung, die eine langfristige Verankerung ihrer Ideologie in der Gesellschaft gewährleisten sollen. Die Bereiche Medien, Kunst und Kultur sowie der Bildungssektor waren in der Türkei lange Zeit Domänen der Linken. Es gab lange Zeit eine Tradition des kritischen Journalismus, eine Massenkultur des politischen Liedes, sozialistische und kurdische Gruppen unterhielten zahlreiche Kulturzentren, und namhafte Intellektuelle sympathisierten mit ihnen.

Weil Ankara die kommenden Generationen am Ideal des sunnitischen Türkentums ausrichten will, sollen diese abweichenden Strömungen beseitigt werden. So wurde etwa die Stammbesetzung der vor einem Millionenpublikum auftretenden linken Band »Grup Yorum« im November 2016 verhaftet, ihr Proberaum im Istanbuler Idil-Kulturzentrum zum wiederholten Mal verwüstet, ihre Instrumente von eingesetzten Beamten einer Spezialeinheit absichtlich zerstört.

Dutzende Kulturvereine, insbesondere im Südosten der Türkei, wurden wegen vermeintlicher Nähe zur PKK geschlossen (oder bei den Militäreinsätzen zerstört), Künstler und Intellektuelle wegen eines von ihnen unterzeichneten Friedensappells verhaftet oder entlassen. Zuletzt gaben die türkischen Behörden bekannt, Ermittlungen gegen 433 Filmemacher und Schauspieler aufgenommen zu haben. 673 Professoren verloren allein in einer Säuberungswelle Anfang Januar ihre Stellen.

Stark beeinträchtigt ist die Arbeit der Medien bzw. wurde komplett untersagt. Viele Journalisten befinden sich in Haft, andere sind ins Ausland geflohen. Fernsehsendern und Radios wurde ihre Lizenz entzogen, vor allem kurdische und linke Printmedien wurden verboten. Die Organisation »Reporter ohne Grenzen« zählt auf ihrer Internetseite aktuell 37 wegen ihrer beruflichen Tätigkeit eingesperrte Journalisten, bemerkt dazu jedoch: »In Dutzenden weiteren Fällen ist ein direkter Zusammenhang der Haft mit der journalistischen Tätigkeit wahrscheinlich, lässt sich aber derzeit nicht nachweisen, denn die türkische Justiz lässt die Betroffenen und ihre Anwälte oft für längere Zeit über die genauen Anschuldigungen im Unklaren.« Die Vereinigung Europäischer Journalisten (VEJ) kommt gar auf 150 Journalisten und Verlagsmitarbeiter in Haft und bilanziert: »Die Türkei wurde zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten.«¹ Der prominente linksliberale Publizist Can Dündar, derzeit selbst im Exil in Deutschland, fasst die Situation im Spiegel (1/2017) so zusammen: »Außer einer Handvoll Kämpfer für die Pressefreiheit existieren in der Türkei nur noch drei Kategorien von Journalisten: Solche, die ihren Job verloren haben. Die im Gefängnis. Und die an der Seite der Macht.«

In Medien und Kunst sollen nur noch der Staatsräson der »neuen Türkei« dienliche Inhalte vermittelt werden. Genauso wird versucht, schon die Jüngsten auf Linie zu bringen: Am ersten Schultag nach den Ferien im September 2016 mussten alle 18 Millionen Kinder und Jugendlichen an einer von der Regierung konzipierten Projektwoche² zur Niederschlagung des Putsches teilnehmen – samt Schweigeminuten und Gebeten für die gefallenen »Märtyrer«. Zehntausende Lehrer wurden in den vergangenen Monaten suspendiert, insbesondere, wenn sie Mitglieder der linken Bildungsgewerkschaft Egitim Sen waren. (Egitim Sen konnte allerdings durch großen öffentlichen Druck eine Wiedereinstellung von über 10.000 suspendierten Lehrern erwirken.)³ Hunderte Privatschulen, die dem Gülen-Netzwerk nahestanden, wurden geschlossen. In einer Istanbuler Schule wurde ein Schrein zum Gedenken an die Niederschlagung des Putsches errichtet, der die Inschrift trägt: »Was immer ihr auch macht, ihr könnt das Aufwachen des türkischen Volkes nicht verhindern. Was immer ihr auch macht, der Sieg gehört dem Islam.«⁴

Die AKP versucht, andere ideologische Traditionen in der vielschichtigen türkischen Gesellschaft so weit wie möglich zu zerstören. Geschaffen werden soll eine Massenbewegung, die inhaltlich auf Nationalismus und (sunnitischen) Islam festgelegt ist. Zusammen mit der faschistischen MHP rief Erdogan nach dem Putsch mehrfach zur »nationalen Mobilisierung« auf. Immer wieder verlangen die Behörden, jeder Bürger solle abweichende Stimmen – sei es in den »sozialen Medien«, sei es im realen Leben – denunzieren.

Bisweilen reichen in dieser Atmosphäre der Angst minimale Gesten des Unmuts: Ende Dezember wurde der Kantinenchef der Tageszeitung Cumhuriyet festgenommen, weil er gesagt haben soll, er würde »Erdogan keinen Tee servieren«, falls dieser in die Redaktion komme.⁵ Fälle wie dieser sind keine Seltenheit. Ein kritischer Tweet reicht, um in den Fokus des prügelnden Mobs – wie im Falle des Modedesigners Barbaros Sansal – zu geraten, oder festgenommen und mit Gerichtsverfahren überzogen zu werden – wie kürzlich die linke Aktivistin Ergin Cevik.

Wenn es ein Symbol der gegenwärtigen Phase der AKP-Herrschaft gibt, dann ist es der Knast. Zehntausende politische Gefangene bringen die Haftanstalten mittlerweile an die Grenzen ihrer Kapazitäten. Deshalb sollen, so das Innenministerium, im kommenden Jahr 170 neue Gefängnisse gebaut werden.

In den Knästen herrschen Bedingungen wie in Zeiten der Militärjunta in den 1980er Jahre: Zahlreiche Berichte zeugen von physischer und psychischer Folter, Verweigerung von Trinkwasser, Nahrung und medizinischer Behandlung.

Mehrheit gegen Diktatur

Gleichwohl scheinen alle diese Maßnahmen nicht auszureichen, die Zustimmung zur AKP-Diktatur auf jene Hälfte der Gesellschaft auszudehnen, die ihr immer schon skeptisch gegenüberstand. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts AKAM vom November 2016 zeigt, dass die AKP mit 45,59 Prozent der Stimmen im Falle einer Wahl den nationalistischen Taumel nach dem Putschversuch nicht in Sympathien für die Regierungspartei transformieren konnte. Die stärkste Oppositionspartei CHP wäre auf 30,34 Prozent gekommen, die linke HDP hätte trotz aller Propaganda gegen sie immer noch 11,36 Prozent für sich verbuchen können. Wären zum Zeitpunkt der Umfrage Präsidentschaftswahlen gewesen, so hätten 36,5 Prozent der Befragten für Erdogan votiert, 36,9 Prozent dagegen nicht. 9,4 Prozent gaben an, es hänge davon ab, wer die anderen Kandidaten sind, 17,2 Prozent wären unentschlossen.⁶ Noch eindrucksvoller sind die Antworten auf die Frage, welche Institution als wie vertrauenswürdig erachtet werden: 61,7 Prozent misstrauen der Regierung, 97 Prozent der Justiz, 72,2 Prozent der Polizei.

Eine weitere Umfrage des Instituts Gezici vom Dezember 2016 weist zudem aus, dass eine Mehrheit der Bevölkerung immer noch die Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem ablehnt: 58 Prozent sprechen sich gegen das Hauptprojekt der AKP aus, sogar unter der eigenen Wählerschaft sind 20,5 Prozent dagegen.⁷

Noch problematischer könnte für die AKP werden, dass auch 62 Prozent der MHP-Basis nichts vom Präsidialsystem halten. Der Parteiführer der Faschisten, Devlet Bahceli, hatte erst Anfang Januar bekundet: »Wir werden ja sagen, wenn das Parlament über die Vorschläge zur Verfassungsänderung abstimmt (…). Und wir werden dieses ja beim Referendum wiederholen.« In der Nacht zum vergangenen Dienstag hatte das türkische Parlament offiziell beschlossen, über eine entsprechende Verfassungsänderung zu beraten. 338 von anwesenden 480 Abgeordneten sprachen sich dafür aus. Mindestens 330 Ja-Stimmen waren für die Eröffnung der Diskussion nötig, die AKP verfügt über 316 Sitze. In den nächsten Wochen soll über jeden der 18 Artikel der Reform einzeln beraten und abgestimmt werden. Die Unterstützung der MHP-Abgeordneten könnten den bestehenden Dissens zwischen Führung und Basis allerdings noch verschärfen. Bereits am 4. Januar trat der stellvertretende Vorsitzende der MHP, Atila Kaya, zurück und erklärte öffentlich, dass sein »Glaube in den Nationalismus« und sein »Verständnis des türkischen Nationalismus« ihn dazu zwingen, gegen die Parteilinie mit »Nein« zu stimmen. Kaya dürfte nicht der einzige bleiben.

Ankara ist zwar offenkundig (noch) in der Lage, mit Gewalt die eine Hälfte der Bevölkerung ruhigzuhalten, die AKP kann sie aber nicht für ihre Ideen gewinnen. Eine Niederlage aber bei den parlamentarischen Abstimmungen oder beim Referendum zum Präsidialsystem hätte für die AKP weitreichende Auswirkungen und könnte zum Ausgangspunkt einer neuen Bewegung für die Demokratisierung der Türkei werden.

Außerdem könnte auch an der Basis der Regierungspartei im Jahr 2017 durchaus Unmut aufkommen. Ein nicht geringer Teil der AKP-Anhänger ist nicht in erster Linie ideologisch motiviert, sondern will Stabilität, Geschäftsmöglichkeiten und die Versorgung durch das Klientelsystem der Partei. Der Einbruch im Tourismussektor und die sich ankündigenden krisenhaften Entwicklungen der Wirtschaft generell könnten bei diesen Wählern für Unmut sorgen.

Dazu kommt, dass viele Bürger der AKP die Schuld für die verheerende Sicherheitslage in der Türkei geben. Denn zum einen ließ die Partei Erdogans genau jene islamistischen Kräfte gedeihen, die nun auch in der Türkei Anschläge verüben. Zum anderen trägt sie die Verantwortung für die Beendigung des Friedensprozesses mit der kurdischen Befreiungsbewegung und damit auch für jene Guerillaaktionen, die seitdem mehreren tausend Polizisten und Soldaten das Leben kosteten.

Die AKP wird zwar versuchen, durch außenpolitische Abenteuer – in Syrien und möglicherweise auch im Irak – von der innenpolitischen Misere abzulenken. Derzeit allerdings sieht es trotz aller Bemühungen nicht danach aus, als würde das gelingen.

Anmerkungen

1 https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/tuerkei-ist-weltweit-groesstes-journalisten-gefaengnis/

2 http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/tuerkei-schueler-werden-nach-putschversuch-auf-linie-gebracht-a-1112897.html

3 http://www.gazeteduvar.com.tr/gundem/2016/12/28/aciga-alinan-10-bin-400-egitim-senli-gorevine-dondu/

4 https://www.evrensel.net/haber/302535/ilkokulda-zafer-islamin-pankarti

5 http://www.n-tv.de/politik/Cumhuriyet-Kantinenchef-verhaftet-article19415286.html

6 http://m.t24.com.tr/haber/akam-arastirmasi-15-temmuzdan-erken-secime-kurt-sorunundan-hdplilerin-tutuklanmasina-son-anket-ne-diyor,372717

7 https://tr.sputniknews.com/politika/201612271026519884-gezici-arastirma-sirketi-anayasa-degisikligi-baskanlik-arastirmasi/

Peter Schaber schrieb an dieser Stelle zuletzt am 10.9.2016 über die Rolle der Kurden im Syrien-Krieg.

https://www.jungewelt.de/blogs/rlk2017/303577