24.06.2011 / 0

Alle denkbaren Szenarien

Von Peter Wolter

Die Ankündigung Israels, daß die Marine den Hilfskonvoi für den blockierten Gazastreifen nicht passieren lassen wird, hat sicher nicht zur inneren Entspannung bei den Teilnehmern der Free-Gaza-Flottille beigetragen. So ziemlich jeder geht davon aus, daß die Kaperung der zehn Schiffe ähnlich brutal verlaufen wird wie im vergangenen Jahr – und jeder hofft, daß es nicht wieder neun Tote und zahlreiche Verletzte geben wird.

In diversen griechischen Häfen bereiten sich die Aktivisten zur Zeit darauf vor, was sie zu erwarten haben. Was zum Beispiel zu tun ist, wenn die Soldaten die Schiffe vor dem Entern erst einmal mit Tränengas beschießen. Ist es besser, den Zugriff drinnen im Schiff oder draußen an Deck zu erwarten? Teilnehmer der Flottille des vergangenen Jahres raten dringend zu letzterem – das Tränengas wird dort schneller vom Seewind oder auch vom Luftwirbel israelischer Hubschrauber verweht.

Die Mitreisenden der »Tahrir« bereiten sich seit Donnerstag im Konferenzraum eines Hotels auf alle denkbaren Szenarien vor. Die Ausgangslage ist klar: Der Hilfskonvoi wird wahrscheinlich wie im vergangenen Jahr in internationalen Gewässern angegriffen. Das widerspricht ohne Zweifel dem Völkerrecht – was den Israelis aber erfahrungsgemäß egal ist.

Den Teilnehmern steht einiges bevor. Zunächst die Seefahrt: Viele haben bestenfalls Ausflugsdampfer kennengelernt – mit einem 25 Meter langen Schiff durch das zur Zeit recht rauhe Mittelmeer zu schaukeln, dürfte manchen Magen überfordern. Das »medical team« der Aktivisten will vorsichtshalber Scopolamin-Pflaster besorgen, die sich als wirkungsvoll gegen die Seekrankheit erwiesen haben. Es wird auch schwierig sein, Schlaf zu finden – unter Deck gibt es zwar einige Tische und Bänke, aber keine Kojen. Die Teilnehmer werden dort schichtweise schlafen oder sich gleich an Oberdeck auf die harten Stahlplatten legen müssen. Mit der Toilette sieht es auch schlecht aus – es gibt nämlich nur eine für etwa 45 Passagiere.

Die nächste Phase wäre der Zugriff. Die israelische Marine wird die Schiffe per Seefunk auf Kanal 16 anfunken und sie zunächst recht höflich bitten, entweder umzukehren oder einen israelischen Hafen anzulaufen.  Das aber wird keines der Schiffe tun, worauf sich die israelischen Enterkommandos mit schnellen Schlauchbooten und Hubschraubern auf den Weg machen. Teilnehmer der letztjährigen Flottille berichten, daß die  Soldaten maskiert sind und am Gürtel Tränengaspatronen und Taser-Pistolen tragen – Geräte, die auf kurze Distanz einen elektrischen Kontakt verschießen, der Menschen für einige Zeit am ganzen Körper lähmt. In der Hand halten sie ein M-15 Gewehr mit einem Aufsatz, der Paintballs verschießt. Diese Bälle sind mit einer fluoreszierenden Flüssigkeit gefüllt, so daß der Getroffene auch bei Dunkelheit sichtbar ist.

Per Rollenspiel versuchen sich die Teilnehmer damit vertraut zu machen, was sie erwartet, wenn die israelischen Soldaten an Bord kommen. Ist es besser, gleich die Hände hochzuheben? Oder ist es vorzuziehen, untergehakt am Boden sitzen zu bleiben? Wie verhält man sich, wenn die Soldaten  einem den Gewehrkolben ins Gesicht rammen oder mit ihren Stiefeln in die Mägen treten? Oder versuchen, einem die Finger zu brechen, wie es laut des Berichts einer UN-Kommission im vergangenen Jahr geschah?

Gegenwehr wäre sicherlich das Falscheste, was man in einem solchen Moment tun kann. Und wie reagiert man, wenn einem die Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken gefesselt werden? Protestieren ist eher nicht angebracht – erfahrungsgemäß ziehen die Soldaten dann die Plastikfesseln noch stärker an. Im vergangenen Jahr führte das in Dutzenden Fällen dazu, daß die Hände monatelang gelähmt blieben. Und wie kann man versuchen, seine Fassung und seine Menschenwürde zu bewahren, wenn einem die Soldaten Plastiktüten über den Kopf ziehen?

Die nächste Phase, auf die sich die Teilnehmer innerlich vorbereiten, ist die Ankunft in Israel. Im vergangenen Jahr wurden die gefangenen Aktivisten wie im Triumphzug durch ein Spalier aufgehetzter Israelis geführt, die sie beschimpften und mit Dreck bewarfen. Selbst Schulklassen wurden zu diesen Zweck herbei gekarrt, das Ganze wurde im Fernsehen übertragen. Wie geht man mit einer solchen Situation um, in der man gezielt erniedrigt wird?

Darüber hinaus müssen sich die Aktivisten auf die Verhöre einstellen. Soll man auf einen Dolmetscher bestehen oder sich auf das gebrochene Englisch inferiorer Polizeibeamter einlassen? Soll man etwas unterschreiben? Gar Papiere, die in Hebräisch verfaßt sind? Wie stark soll man darauf insistieren, mit dem Vertreter der Botschaft seines Landes zu sprechen?

Bis zur Abschiebung werden die Teilnehmer wohl erst einige Zeit in einem israelischen Gefängnis verbringen müssen. Frühere Teilnehmer berichten, daß sie dort im Vergleich zu vorher korrekt behandelt wurden.

Den 45 Mitreisenden der »Tahrir« sieht man die Spannung an, auch wenn jeder versucht, so cool wie möglich zu bleiben. »I got butterflies in my stomach«, bekannte ein Australier.

https://www.jungewelt.de/blogs/freegaza/301751