03.06.2007 / 0

Ruhepause in Reddelich

Sebastian Wessels, Reddelich

Am Sonntag war die Stimmung im Protestcamp trotz der Gewaltausbrüche der vorangegangenen Nacht entspannt. Bei Sonnenschein und strahlend blauem Himmel erwacht am Morgen das Leben in Camp Reddelich.
Ein friedliches, beinahe idyllisches Bild – etwa um halb neun beginnen Freiwillige in den „Volxküchen"  Frühstück auszuteilen;  die ersten Camper, gerade aus ihren Zelten gekrabbelt, finden sich ein und warten auf Kaffee. Andere gehen zuerst duschen, natürlich kalt und im Freien, wechseln ein paar Worte und ermuntern einander, beißen die Zähne zusammen und fühlen sich danach so erfrischt wie selten. Die Hoororbilder des gestrigen Abends in Rostock, die Wasserwerfer, die Kämpfe, das Tränengas, scheinen in weiter Ferne.
Mit ein paar hundert Zelten haben bei Reddelich etwa 4500 Camper eine kleine Stadt errichtet, samt öffentlicher Gebäude: Ein Empfangszelt an der Einfahrt informiert Neuankömmlinge,  ein Circuszelt bietet Raum für größere Versammlungen, im Indymedia-Zelt stehen Computer mit Internetzugang, am Zelt des Ermittlungsausschusses werden Hinweise entgegengenommen und Broschüren zum Umgang mit staatlicher Repression verteilt. In der „Chill-Out-Zone" lädt eine Art kleiner Biergarten mit Bänken und Tischen zur Geselligkeit ein. Große Pinwände am Infopunkt informieren über anstehende Termine. Hier gibt es sogar einen „Newsticker", bestehend aus einem großen Brett und angehefteten handgeschriebenen Zetteln, der eine Chronik der gestrigen Ereignisse bildet – natürlich, wie alle Hinweisschilder hier, auf Deutsch und Englisch.
Als die Camper wenig später entspannt beim Frühstück zusammensitzen, sind natürlich die Gewalttätigkeiten während der gestrigen Rostocker Demo das Hauptthema. Überrascht ist kaum jemand, aber viele schütteln die Köpfe und erzählen einander, was sie gehört oder gesehen haben. Eine Polizeikolonne soll einige Aktivisten, die nachts mit dem Fahrrad nach Reddelich zurückkehrten, mit Tränengas angegriffen haben, erzählt einer. Polizisten hätten am Stadthafen, wo die Gewalt anfing, einen als Autonomen verkleideten Kollegen zum Schein angegriffen, um die Demonstranten zu provozieren, eine andere. Ohne Beweise oder Augenzeugen hört man diese Dinge mit Skepsis, hält sie aber ohne weiteres für möglich. Und auch,  daß niemand weiß, was sich genau zugetragen hat, trägt zur Unsicherheit bei – ebenso wie der Hubschrauber, der gelegentlich über dem Gelände kreist, und die Polizeieinheiten, die ständig auf der Bundesstraße 105 an der Abfahrt zum Camp Wache halten.
Hinter der entspannten, teils sogar fröhlichen Stimmung am Sonntag ist allen bewußt, daß noch nichts überstanden ist. Wenn am 6. und 7. Juni die Blockaden der Zufahrten nach Heiligendamm anstehen, wird voraussichtlich das Rostocker Camp an Bedeutung verlieren und stattdessen Reddelich zur Hauptbasis der Aktivisten werden – und damit auch vornehmliches Ziel von Polizeiaktionen. Mittags bezieht sich der Himmel und es wird wieder kühl. Per Megaphon ruft jemand zum Blockadetraining. Schließlich haben die proteste ja gerade erst begonnen.

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