16.11.2016 / Feuilleton / Seite 1 (Beilage)

Ungewohntes und Ausgefallenes

Die preisgekrönten Bilder der »Blende 2016« eint die Haltung ihrer Urheber, Normen nicht ganz ernst zu nehmen. Vielleicht deutet das auf Bedarf an Veränderung

Arnold Schölzel

Was neben der Spur ist, vielleicht sogar voll daneben, bizarr oder was sonstwie keiner auf dem Zettel hat – die Aufforderung, zum »Blende 2016«-Wettbewerb Fotografien zum Thema »Gegen die Regeln – Unkonventionell/Ausbruch aus der Norm« einzusenden, prägt den gesamten Jahrgang. Dabei entfallen von den 355 eingeschickten Fotos durchaus nicht die meisten auf diesen Themenvorschlag. Für die anderen beiden – »Doppelt gesehen – Spiegelungen« und »Magie des Alltags« – sahen die 45 Teilnehmerinnen und 46 Teilnehmer jeweils mehr Fotos vor als für den ersten, aber das Aus-der-Norm-Fallen, das Mal-über-die-Stränge-schlagen prägt auch Bilder zu diesen beiden Themen. Gleiches gilt für die Preisträger unter den 39 Einsendungen derjenigen, die noch keine 18 Jahre alt sind, zu »Lebensgefühl Jugend 2016«. Lilly Schönherr gewann dort mit (einem in jeder Hinsicht unkonventionellen) »Hochsprung« den ersten Preis und Milene Kunze mit »Zunge raus« den zweiten. Etwas Überraschendes anstellen, Sachen gegen den Strich bürsten, ist offenbar in diesen Zeiten ein Bedürfnis. Und: Das nicht verstecken, sondern abbilden.

Die Bilder zum Normbruchthema sind da fast diejenigen, die am prosaischsten sind – die Piss­clowns von Köln gehören in die Kategorie der regelmäßigen Regelverletzer, die Konfrontation zwischen Uniformträgern und Demonstranten, die sich noch aufregen, ist Alltag in der Bundesrepublik. Sie gehört im allgemeinen nicht zu den Gegenden der Welt, in denen es viele Abweichungen vom Verordneten gibt. Der »Querkopf« Lenin aus Leipzig ist da wahrhaft außergewöhnlich. Johannes Schönherr aus Berlin, der mit seinen Bildern aus Großbritannien bei allen drei Themen von der Jury Preise zuerkannt erhielt, darunter den ersten bei »Spiegelungen«, hat die Ironie und den Witz von überraschenden Situationen mit leichter Hand eingefangen. Selbst das Genrefoto aus der Tate Modern in London ist davon bestimmt. Das ist nicht leicht hinzubekommen, aber darum um so wirkungsvoller.

Selbstverständlich sind in diesem Jahrgang auch Fotos, die nicht den Schmelz leichter Anarchie tragen, sondern ernst, nachdenklich stimmen, z. B. die aus Kopenhagen eingeschickten Aufnahmen von Shahin Aakjar, die er in Yazd im Iran machte. Für sein »Kinderspiel« und die »Schwesternliebe« wurden der zweite Preis bei »Unkonventionell« und der erste bei »Magie des Alltags« vergeben. Und »Nix geht mehr« von Christian Scholz aus Dresden zeigt zwar eine Situation, die auf alle, die nicht in den festgekeilten Straßenbahnen saßen, vermutlich komisch wirkt, aber auch ein Symbol für einen gesellschaftlichen Zustand ist. Macht sich Totalblockade breit, spüren immer mehr das Verlangen, nach draußen, an frische Luft zu gelangen, eben hochzuspringen oder die Zunge rauszustrecken.

Mag sein, es ist Zufall, dass so viele Bilder der »Blende 2016« in dem, was sie widerspiegeln, übereinstimmen. Die Haltung, mit der fotografiert wurde, scheint aber verbreitet. Und zwar landesweit, gemessen an der Herkunft der Fotos nach Bundesländern. Vier sind nicht vertreten, dafür gab es zwei Teilnehmer aus Österreich und einen aus Dänemark. Nach Altersgruppen sind neben denen unter 18 Jahren diejenigen unter 30 Jahren am stärksten vertreten, die jüngste Teilnehmerin ist in diesem Jahr zwölf, der älteste Teilnehmer 81 Jahre alt.

Wenn Ungewohntes und Ausgefallenes im Alltag und in der Gesellschaft zum Thema auf Bildern werden – vielleicht deutet das ja auf Kommendes. Der Bedarf an Veränderung wächst offenbar.

Ausstellungseröffnung und Preisverleihung: Freitag, 18. November, um 18.30 Uhr, jW-Ladengalerie, Torstr. 6, 10119 Berlin

https://www.jungewelt.de/beilage/art/297708