26.08.2016 / Feuilleton / Seite 11

Vor dem Spiegel

Wiglaf Droste

Die Krankenschwester war ein Trumm von Anfang 60, sah keinen Tag jünger aus und wusste darum, ohne im mindesten daran zu zerbrechen. Sie war keine »Serviceleisterin«, sondern Krankenpflegerin und wuchtete schwere menschliche Geschosse weg. Sie wullackte und malochte wie am Hochofen, und sie konnte das. Auf einem Flur hörte ich sie zu einer ihrer Kolleginnen sagen: »Ich weiß gar nicht, was diese Oberärzte immer für ein Getue um Darmspiegelungen machen, wie gefährlich das wäre und nur etwas für ausgebildete Mediziner wie sie. Dabei mache ich das jeden Morgen und jeden Abend, wenn ich mir die Zähne putze.« Und dann lachte sie, als rauche sie 50 Fluppen am Tag und spucke auch nicht in die kleinen Gläser für die Kurzen.

Ich war auf der Stelle verknallt. Da war es, das Salz der Erde, das es aller Simulationsexistenzen zum Trotz immer gab, gibt und geben wird. Es ist nicht Atlas, der die Welt trägt, es sind diese Leute, die sie stemmen, Tag für Tag, wie Sisyphus, ohne dass sie von dessen Mythos je vernommen hätten. Wenn sie eine Gewerkschaft hätten, die den Namen verdiente, ginge es ihnen und der Welt erfreulich besser und beispielsweise börsianischen Abgreifern weniger feistusraclettushaft, dachte ich, und dann sah ich noch, wie sie einen schnaufenden Zweieinhalbzentnermann ins Krankenbett packte.

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