29.06.2016 / Feuilleton / Seite 11

Verfallsdatum

Wiglaf Droste

Es gab eine Zeit, in der es sinnvoll war, Lebensmittel nach Ablauf des Verfallsdatums wegzuwerfen; das Ablaufdatum war so weit wie möglich rausgeschoben, damit die Hersteller auch zweifelhafte oder schon gammelige Ware verkaufen konnten. (Sinnvoll sein ist, nebenbei, das Gegenteil von »Sinn machen«, eine Formulierung, an der man den deutschen Aufschneiderbewusstlosen lupenrein erkennt.)

Wenn Lebensmittelhöker aber eine solventere und sich als »bewusst« hochstufende Kundschaft im Visier haben, läuft das Spiel genau andersherum: Das Verfallsdatum wird viel früher als nötig angesetzt, damit Lebensmittel, die noch völlig in Ordnung sind, weggeworfen und an ihrer Stelle neue gekauft werden.

Man nennt dieses Vorgehen und Verfahren auch Kapitalismus mit biologischem Antlitz; das bedeutet, Menschen mit einem sorgsam und ausgestellt kultivierten und gehegten »Konsumbewusstsein« für genau so spezifisch dumm zu verkaufen, wie sie es sind. (Siehe auch: »die Menschen da abholen, wo sie sind«, also in dem Zustand, in den man sie zuvor versetzte und brachte.)

Denn eines kennt kein Ablauf- und Verfallsdatum: die Anpassung an die Verhältnisse im Sinne der Feigheit, die Unterwerfung mit demonstrativ erhobenem Haupt, die Chuzpe, alle Akte des Opportunismus als Gesten der Widerständigkeit und der Auflehnung umzucodieren. Das ist das Ideal des ökobewussten Middle-of-the-Road-Runners: der erfolgreiche Brown-Nosing Man als selbstgefühlter Rebell, als Solitär und Visionär. Was er beim tiefen Kriechgang wohl zu sehen bekommt?

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