18.12.2015 / Schwerpunkt / Seite 3

Kampfplatz Internet

Am 28. November 2010 begann die Enthüllungsplattform Wikileaks mit ihrer Veröffentlichung von mehr als 250.000 internen Berichten aus US-Botschaften in aller Welt, bekannt als »Cablegate«. Schon am Tag darauf stellte der tunesische Blog Nawaat eine Auswahl von 19 Nachrichten aus der US-Botschaft in Tunis unter einer eigenen Adresse ins Internet: die »Tunileaks«. Nawaat gehörte jedoch zu den Webseiten, die scharf von der Zensur beobachtet wurden und bei denen der Hinweis »Amar 404« (Nicht gefunden) erschien, wenn man sie von Tunesien aus aufrief, weil sie von der Zensurbehörde ATI gesperrt waren.

Am 2. Dezember erschienen 17 »Tunileaks« in arabischer Übersetzung als Teil des »Cablegate«-Dossiers der libanesischen Tageszeitung Al-Akhbar. Die Anzahl der Zugriffe auf die Internetseiten der Zeitung erhöhte sich sprunghaft. Ende der ersten Dezemberwoche sabotierte ATI zuerst die Webseite der »Tunileaks«, die umgezogen war, dann die Seiten von Al-Akhbar. Allerdings förderte auch dieser Schritt über die Landesgrenzen hinweg nur die Verbreitung der kompromittierenden Botschaftsprotokolle.

Die »Tunileaks« blieben nicht die einzige Sorge von ATI. Hinzu kamen die Proteste, die nach der Selbstverbrennung Mohammed Bouazizis am 17. Dezember in Sidi Bouzid begonnen hatten. Vergeblich versuchte die Zensurbehörde, eine Nachrichtensperre zu verhängen. Die Presse war schnell ausgeschaltet. An ihre Stelle trat jedoch eine improvisierte Berichterstattung mit Hilfe von Fotohandys und über das Internet. In einem bis dahin einzigartigen Katz-und-Maus-Spiel um sichere und unsichere Verbindungen, gestohlene Passwörter, gekaperte E-Mails und gehackte und mit Viren und Trojanern gespickte Webseiten gelang es den Protestierenden, die Zensur zu unterlaufen.

Am 3. Januar kam Unterstützung von »Anonymous«: In der »Operation Tunisia« sperrte die Hackergruppe acht Regierungsinternetseiten, veröffentlichte auf der des Premierministers ein Manifest, um die »Kriegserklärung der Regierung Ben Ali gegen Redefreiheit, Demokratie und die eigene Bevölkerung« zu beantworten. Die Staatsmacht schlug zurück: Mehrere Blogger wurden ausfindig gemacht und verhaftet, ebenso der Rapper »El Général« Hamada Ben Aoun. Doch schließlich gab sie sich geschlagen. Am 13. Januar, einen Tag vor seiner Flucht, erklärte Ben Ali die Zensur für aufgehoben.

Mitte Februar sagte Wikileaks-Gründer Julian Assange im australischen Fernsehen: »Es scheint, dass das Material, das wir über die libanesische Zeitung Al-Akhbar veröffentlicht haben, einen wesentlichen Einfluss auf die Geschehnisse in Tunesien hatte. Und ohne Zweifel war Tunesien das Beispiel für Ägypten, Jemen und Jordanien und all die Proteste, die dort stattfanden.« (jt)

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