03.12.2014 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Überholen ohne einzuholen

Afrikas Volkswirtschaften wachsen, zumindest wenn man dem Internationalen Währungsfonds glaubt. Doch die Ressourcenausbeutung hinter den schönen Zahlen bringt dem Kontinent mehr Probleme als Wohlstand

Christian Selz

Eine Weile blieb sie ruhig und ertrug die weichgespülten Stimmen der vorgespielten Herzlichkeit. Doch dann brach es heraus aus Robtel Neajai Pailey. »Wenn Sie wirklich helfen wollen«, rief die Doktorandin der School of Oriental and African Studies an der Universität London Mitte November in eine BBC-Talkrunde, »dann ändern Sie die Regeln der Welthandelsorganisation«. Das saß. Die weißen Damen mittleren Alters, die Pailey in der Diskussion über den Sinn und Unsinn von Bob Geldofs neuem »Band Aid«-Lied zu Ebola flankierten, verfielen in Schnappatmung. Pailey, die gebürtige Liberianerin, kurzum: die Afrikanerin, hatte es gewagt, mit dem Unaussprechlichen zu widersprechen: »Afrika braucht keine westliche Hilfe«, stellte sie fest. »Ändern Sie die neoliberalen Programme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF), die der Wirtschaftsstruktur des Kontinents schaden«, forderte die Akademikerin statt dessen kühn und verlangte »strukturellen Wandel«.

Eingetreten ist der bisher freilich nicht, und es gibt auch wenig Anzeichen dafür, dass das in näherer Zukunft passieren könnte. Denn die Programmacher in den Zentren der globalen Finanz- und Unterwerfungsarchitektur haben ja gute Gründe für ihre Entscheidungen. Afrika, das hat sich inzwischen - nach beharrlichem Flüstern von Lobbyvereinen wie der Deutschen Industrie- und Handelskammer und des Bundesverbands der Deutschen Industrie - bis ins Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung herumgesprochen, ist schließlich der »Chancenkontinent«. Und die Möglichkeiten, von denen in diesen Kreisen geträumt wird, lassen sich am besten aus einer Position des Stärkeren wahrnehmen.

So richtig in aller Investorenmunde ist der Erdteil, seitdem die britische Wochenzeitschrift The Economist im Dezember 2011 die Mär vom »Africa Rising« auf ihre Titelseite hob. Die Geschichte vom aufsteigenden Kontinent stützte sich im wesentlichen auf Zahlen zum »Wachstum«, der gottgleichen Kenngröße kapitalistischer Wirtschaftsordnung. Sechs der zehn am schnellsten »wachsenden« Volkswirtschaften hatte das Wirtschaftsblatt da anhand von IWF-Daten in Afrika ausgemacht, dazu eine durchschnittliche Steigerung der Bruttoinlandsprodukte um sechs Prozent. Die Stars der Szenerie damals: Ölförderländer wie Äquatorialguinea und Angola. Und Äthiopien, blühende Heimatlandschaft für den Export bestimmter Rosen, deren Anbau bei begrenzter Agrarfläche und einem Bruttoinlandsprodukt von laut IWF-Daten umgerechnet 400 US-Dollar pro Kopf und Jahr schon 2011 zu weitverbreiteter Unterernährung führte.

Wie unsinnig derlei Statistiken sind, zeigt auch das Beispiel Nigerias, das die Nachrichtenagentur Reuters im April zur größten Volkswirtschaft des Kontinents noch vor Südafrika hochrechnete. »Überholt« habe das 170-Millionen-Einwohner-Land den bisherigen Primus im Süden, schrieb die Weltpresse anschließend in gewohnter Eintönigkeit. Dass Nigeria nur wenig verarbeitende Industrie hat, seiner jungen Bevölkerung kaum berufliche Perspektiven bieten kann und durch die Ölförderung im Nigerdelta vor riesigen Umwelt- und Sozialproblemen steht, fällt da weitestgehend unter den Tisch. Solche Misstöne zerstören nur den schönen Schein.

Doch der angebliche Aufstieg Afrikas ist keine Erfolgsnachricht, sondern das Resultat immer gierigerer Rohstoffausbeutung durch Konzerne, deren Geschicke nicht in Lagos, Johannesburg oder Addis Abeba, sondern in London, New York oder Genf gesteuert werden. Er ist nicht Ausdruck besserer Perspektiven von Bergarbeitern, die noch immer Generation um Generation in unsichere Schächte hinabsteigen und doch nur den Reichtum von Aktionären und Managern fördern. Ein »Chancenkontinent« ist Afrika in erster Linie für diejenigen, die ihn als Lagerstätte von Ressourcen begreifen. Und solange das so bleibt, wird er es auch als Objekt für Musiker wie Geldof bleiben.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/265746