12.01.2013 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Maxime: Mehr Staat wagen

Josef Foschepoth hat als erster geheime Dokumente zur Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik untersucht und veröffentlicht

Arnold Schölzel

Am 9. August 1990 sprach die Grünen-Politikerin und ehemalige Pastorin Antje Vollmer im Bonner Bundestag die sogenannten 68er und die Bundesrepublik heilig: »Die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil wir das Law-and-Order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land, weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert haben.« Dem Satz folgte Übles. Wenig später durchlief eine Pogromwelle gegen Migranten das Land, das Grundrecht auf Asyl wurde abgeschafft, und Frau Vollmers politische Generation war vorneweg mit dabei, »humanitäre Interventionen« anzuzetteln, d.h. Angriffskriege. Ein derart beschönigender Blick auf die Geschichte des westdeutschen Staates und die Gewißheit, daß er eine »Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Habermas) durchlaufen habe, waren und sind gute Voraussetzungen, den Export von Demokratie und Rechtsstaat mit militärischen Mitteln zu rechtfertigen.

Das Buch des Freiburger Historikers Josef Foschepoth »Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik« beschreibt dasselbe Land, erzählt eine andere, eine entgegengesetzt verlaufende Geschichte, nämlich die eines »tiefen« Staates und dessen Ausbaus. Seine politische Führung und sein Apparat setzten sich seit 1949 im Kampf gegen die sozialistischen Länder und Linke nicht nur über Verfassung und Gesetze stets hinweg, sondern sie machten daraus ein ständig optimiertes Konzept. So entstand ein Staat, in dem nie drin war, was in seinem Grundgesetz steht. Mit der offenherzigen und fortgesetzen Mißachtung des Völkerrechts nach 1990 wird dieses Konzept weiter verfolgt. Die Verbandelung von Neofaschismus, bundesdeutscher Politik, Ämtern und Justiz zeigt genau das.

Verwaltungsvereinbarungen

Auch bei Foschepoth markiert das Jahr 1968 eine Zäsur. Es wurde nicht nur viel Obrigkeitsstaatliches beseitigt. Die Jahreszahl steht auch dafür, daß eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Bundestages die Notstandsgesetze und en passant das sogenannte G-10-Gesetz (mit Bezug auf Artikel 10 Grundgesetz) zur Einschränkung des Grundrechts auf Post- und Telefongeheimnis verabschiedete. Diese Regelung war nicht für den Notstand, sondern für den Alltag gedacht. Bis dahin fanden Briefdurchsuchung und Abhören durch westdeutsche und westalliierte Geheimdienste, wie Foschepoth akribisch nachweist, ohne gesetzliche Grundlage, aber in gigantischem Ausmaß statt. Bundesnachrichtendienst (BND), Verfassungsschutz und Militärischer Abschirmdienst (MAD) operieren seit 1968 auf Grundlage einer juristischen Carte blanche. Denn eine gerichtliche Überprüfung von Überwachungsmaßnahmen wurde nicht zugelassen und vom Bundesverfassungsgericht wegen der Existenz parlamentarischer Kontrollgremien für überflüssig erklärt. So wurde ein Grundsatz, der angeblich den Rechtsstaat maßgeblich ausmacht, über Bord geworden: Das Recht, gegen amtliches Vorgehen juristischen Beistand einzufordern. Das war bisher schon bekannt. Bei Foschepoth ist zusätzlich zu erfahren: Mit Hilfe von geheimen »Verwaltungsvereinbarungen« zwischen Bundesregierung und den drei Westalliierten wurde 1968/69 geregelt, daß das illegale Vorgehen westlicher und westdeutscher Dienste fortgesetzt werden konnte. Diese Regelungen sind auch 2013 gültig. Die Verfassung interessiert einen feuchten Qualm.

Doppelte Eindämmung

Foschepoth faßt die damaligen Beschlüsse so zusammen: »1968 war ein Schlüsseljahr der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. ›Mehr Staat wagen‹, könnte die Formel lauten, auf den sich der hier beschriebene Prozeß der Installierung der westdeutschen Geheimdienste bringen ließ. Gleichsam aus dem Stand wurden die beiden großen Nachrichtendienste, das Bundesamt für Verfassungsschutz und der BND, konzeptionell, personell und finanziell neu ausgerichtet und erheblich vergrößert. Daß dies möglich wurde, war vor allem die Leistung der neuen Staatspartei, der SPD. ›Mehr Staat wagen‹ war das Konzept, mit dem die SPD koalitions- und regierungsfähig wurde. ›Mehr Demokratie wagen‹ war das Konzept, mit dem die SPD ein Jahr später bei den Bundestagswahlen im September 1969 mehrheitsfähig wurde und dadurch die Regierungsfähigkeit sicherte.« Und noch genauer: »Bedingung war der Aufbau eines effizienten und effektiven Überwachungssystems im Interesse und zum Nutzen der Westmächte und des dadurch selbständiger werden wollenden westdeutschen Staates.«

Das »zum Nutzen der Westmächte« ist eine Art Leitfaden der Untersuchung Foschepoths und eine konzeptionelle Schwäche. Jedenfalls betont er stark die Rolle der Westalliierten bei der Formierung der Bundesrepublik und rückt die Rolle der Deutschen tendentiell in den Hintergrund – allerdings nur in seinem Ansatz, nicht in dem Material, das er als erster an die Öffentlichkeit gebracht hat. So nennt er die BRD »Protektorat des Westens« oder dessen »Frontstaat«, was angesichts ihres Gewichts in der Nachkriegsentwicklung Europas stark verkürzt erscheint. Er folgt dabei der Theorie einer »doppelten Eindämmung«, wonach die Westmächte die Sowjetunion durch Kalten Krieg, Westdeutschland durch Integration hätten im Zaum halten wollen. Tatsächlich ging es in bezug auf die UdSSR seit 1945 mehr um »Roll Back« als um Erhalt des Status quo, die BRD spielte seit Beginn der 50er Jahre in Westeuropa bereits wieder ganz vorne mit. Da mußte nichts eingedämmt werden, man hatte in Richtung Osten sehr viele gemeinsame Interessen mit der Bourgeoisie der ehemaligen Kriegsgegner. Der Autor zitiert selbst aus einem Brief Adenauers vom 16. März 1946: »Die Gefahr ist groß…Asien steht an der Elbe. Nur ein wirtschaftlich und geistig gesundes Westeuropa, zu dem als wesentlicher Bestandteil der nicht von Rußland besetzte Teil Deutschlands gehört, kann das weitere und machtmäßige Vordringen Asiens aufhalten.« Klar und deutlich sind auch die von ihm angeführten Passagen aus einem Grundsatzpapier des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen zur »psychologischen Kriegführung« gegen die DDR von 1952: »Nach dem verlorenen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion sei es jetzt nicht mehr Aufgabe der Deutschen, sondern nur der Vereinigten Staaten, ›die Vernichtung des sowjetisch-kommunistischen Regimes‹ anzustreben. Dagegen habe ›die Bundesrepublik das besondere Ziel, die Befreiung der SBZ durch Räumung dieses Gebiets von der sowjetischen Besatzungsmacht zu erreichen und darüber hinaus eine günstige Entscheidung über die künftige Grenzziehung im Osten jenseits der Oder-Neiße vorzubereiten.‹«

Umfang der Überwachung

Wo so etwas politische Leitlinie ist, gelten Gesetze im Kampf gegen den kommunistischen Feind weniger als das Papier, auf das sie gedruckt waren. Mit einer Einschränkung, die bis heute gilt: Es mußte alles demokratisch und rechtsstaatlich aussehen. Es ist Foschepoths Verdienst, Dokumente gefunden und hier veröffentlicht zu haben, die das belegen. Es handelt sich um Vereinbarungen Adenauers mit den Westalliierten über deren Privilegien bei geheimdienstlicher Tätigkeit auf dem Boden der Bundesrepublik von 1954, um ein Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut aus dem Jahr 1959 und um die genannten Verwaltungsvereinbarungen von 1968. Auch im Zwei-plus-Vier-Vertrag der Alliierten mit den beiden deutschen Staaten aus dem Jahr 1990 wurden die verankerten Sonderrechte der Westalliierten nicht aufgehoben.

Der Umfang der Überwachung war enorm. Laut Foschepoth wurden von den Anfangsjahren der BRD bis zum Beginn der 70er Jahre im Auftrag der westlichen Alliierten von bundesdeutschen Post-, Zoll- und Geheimdienstbeamten »über 100 Millionen Postsendungen aus der DDR beschlagnahmt, geöffnet und zum großen Teil vernichtet«. Der Autor schätzt, daß außerdem jährlich etwa 100000 Postsendungen, die in der Bundesrepublik aufgegeben worden waren, »ebenfalls aus dem Verkehr gezogen wurden«. Allein die USA kontrollierten zwischen 1960 und 1968 etwa fünf bis sechs Millionen Postsendungen jährlich. Als 1968 die BRD-Dienste den Job übernahmen, gingen sie davon aus, daß sie doppelt so viele Kontrollen durchführen müßten wie die US-Kollegen. Zur Entwicklung der Telefonüberwachung seither merkt Foschepoth knapp an: »Mit den Möglichkeiten wuchsen die Bedürfnisse der Geheimdienste.«

Kontinuitäten

Auf den Autor wirken die eigenen Entdeckungen offenbar wie ein Schock, genauso wie auf viele Rezensenten. Mit einer gewissen Fassungslosigkeit merkt er immer wieder an, daß von Behörden und Gerichten dem Staatsschutz stets Vorrang vor den Grundrechten der Betroffenen eingeräumt wurde, daß die Treue- und Anzeigepflicht der mit der Überwachung betrauten Beamten ebenso über das Grundgesetz gestellt wurde. Seine Forschungen ließen ahnen, meint er, daß manches in der Geschichte der BRD »anders war als bislang angenommen. Wer hätte schon gedacht, daß der Post- und Fernmeldeverkehr in der Bundesrepublik überhaupt und wenn in einer derart extensiven Weise überwacht worden wäre«. Es handele sich um einen Prozeß, der die Entwicklung dieses Staates nachhaltig geprägt habe. Deutlich werde auch, »daß mit diesem Buch das Thema Überwachung kein Alleinstellungsmerkmal der DDR mehr ist.«

Woher die alberne Vorstellung von einer in Überwachungssachen »größten DDR aller Zeiten« kommt, läßt sich vermutlich in weiteren geheimen Akten in West und Ost studieren. Foschepoth meint jedenfalls, »auffallend« sei, daß es »bislang keinerlei quellengestützte Forschungen darüber gibt«, in welchem Maß die Sowjetunion in der DDR in Post- und Telefonschnüffelei aktiv war.

Die DDR ist untergegangen, die Überwachung ist geblieben. Foschepoth weist nach, daß die Bundesrepublik ein Überwachungsstaat von Anfang an war. Hinzuzufügen ist: Die Maxime »Mehr tiefen Staat wagen« gilt bis bis heute. Es gab bei den BRD-Geheimdiensten, das lehrt dieses Buch, nicht nur die personelle und ideologische Verbindung zu Reichssicherheitshauptamt, Gestapo und SS. Nein, dieser Staat und seine Ämter haben längst eine eigene Tradition, wie fürs Schaufenster die »Zivilisierung« à la Habermas und Pastorin Vollmer mit dem steten Ausbau von Schnüffelei und Bespitzelung, Datenerfassung hinter der Fassade kombiniert wird. Man war eben stets auf Angriffskrieg eingestellt und ist es bis heute.
Josef Foschepoth: Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2012, 378 Seiten, 34,99 Euro

https://www.jungewelt.de/beilage/art/264996