18.07.2012 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Gemeinsame Werte

Bundesminister Dirk Niebel spricht gern von Menschenrechten und Demokratie. Die sieht er bei Paraguays Putschisten gut aufgehoben. Kuba gilt hingegen als Diktatur

André Scheer

Im Mai haben die Entwicklungsminister der EU in Brüssel eine »Agenda für den Wandel« beschlossen, in der eine »Neuausrichtung« der Entwicklungspolitik der Union festgeschrieben wird. Für Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) war dies der Anlaß zu der Erklärung, die Zusammenarbeit der EU mit den Partnerländern müsse »auf gemeinsamen Werten wie Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gründen«. Insbesondere finanzielle Unterstützung sei »abhängig von dem Engagement der Partner und ihren Fortschritten im Hinblick auf diese Werte«. Sein Verständnis davon, was Rechtsstaatlichkeit bedeutet, hatte Niebel schon zuvor demonstriert, als er im März bei einem Besuch in Afghanistan privat einen Teppich erstand und diesen der Einfachheit halber mit einer Geheimdienstmaschine vorbei am Zoll nach Deutschland bringen ließ. Erst als im Juni der Spiegel darauf aufmerksam wurde, entrichtete Niebel schnell die fälligen Gebühren.

Derselbe Herr Niebel war es, der nach dem institutionellen Putsch in Paraguay flugs am 22. Juni 2012 als erstes Mitglied einer ausländischen Regierung den neuen Machthabern seine Aufwartung machte und sich mit dem gerade ernannten De-facto-Staatschef Federico Franco in freundschaftlichem Gespräch ablichten ließ. Von einer Sperrung der an Paraguay fließenden Gelder wegen der Verletzung gemeinsamer Werte – etwa durch den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Fernando Lugo – war nicht die Rede, denn Niebels »erster Eindruck« war, »daß der Amtswechsel nach den Regeln der Verfassung abgelaufen ist«. Die neue Regierung solle »mit einer Politik der ausgestreckten Hand um Vertrauen werben«, so Niebel. »Ich habe deshalb 8,75 Millionen Euro an neuen Mitteln für bereits bestehende Projekte der Entwicklungszusammenarbeit im ländlichen Raum zugesagt«. Dort beherrschen zwei Prozent der Grundeigentümer 85,5 Prozent der bebaubaren Landflächen, während 300000 Bauernfamilien nicht einen einzigen Quadratmeter Boden zur Nutzung haben. Nur sechs Prozent der landwirtschaftlichen Flächen werden von Kleinbauern bewirtschaftet, die weniger als 20 Hektar ihr eigen nennen.

Die schüchternen Versuche von Präsident Lugo, dieses Übel mit einer Bodenreform zu lindern, gelten als einer der Auslöser für seinen Sturz. Niebels Parteifreund Franco – dessen PLRA ebenso wie die FDP der Liberalen Internationale angehört – kündigte bereits in seiner Antrittsrede als neuer Staatschef hartes Vorgehen gegen landlose Bauern an, die brachliegende Grundstücke besetzen. Eine solche Räumung im Departamento Canindeyú hatte im Juni mindestens 16 Menschenleben gekostet – und diente den Putschisten als Vorwand für das Amtsenthebungsverfahren gegen Lugo.

Während Niebel so etwas für »den Regeln der Verfassung« gemäß hält, sind er und seine Parteifreunde anderswo strenger. Der langjährige kubanische Präsident Fidel Castro etwa wurde vom heutigen Bundesaußenminister und damaligen FDP-Chef Guido Westerwelle 2008 als »menschenverachtender Diktator« beschimpft. Und schon im Jahr zuvor schrieb Westerwelle in der Springerpostille Die Welt: »Wenn wir an Menschenrechtsverletzungen auf Kuba denken, dann sollte uns nicht nur Guantánamo einfallen, dann sollten wir auch an die Gefängnisse in Havanna denken.«

In der auf der Homepage von Niebels Bundesministerium abrufbaren »Informationsmappe Lateinamerika« wird unfreiwillig klargemacht, was die Teppichschmugglerfraktion so aufregt: »Gleich daneben liegt Kuba, das nach wie vor ein in vielen Bereichen gutes Bildungs- und Gesundheitssystem unterhält, und das die meisten Millenniumsentwicklungsziele bereits erreicht hat. In Kuba widersetzen sich die Machthaber aber nach wie vor jedem politischen Wandel und Wettbewerb.«

Ja, ein »politischer Wandel« wie in Paraguay, zuvor in Honduras oder – versucht und erfolgreich verhindert – in Venezuela, Bolivien und Ecuador ist in Kuba nicht vorstellbar, trotz der schweren Probleme, die das seit mehr als einem halben Jahrhundert von den USA blockierte Land bewältigen muß. Es sind andere »gemeinsame Werte« als die der Herren Niebel und Westerwelle, die in Kuba Vorrang haben und die in diesem jW-Spezial behandelt werden:

Modaira Rubio hat aufgeschrieben, wie Kubaner in Venezuela und anderen Ländern helfen, Menschenrechte wie Gesundheit und Bildung zu sichern. Santiago Baez notiert am Beispiel der im Juli erstmals seit über 100 Jahren in Kuba aufgetretenen Cholera, warum Kubas Gesundheitsversorgung das Beispiel mit der reichen Supermacht im Norden nicht zu scheuen braucht. Mario Arcadi erzählt über eine besondere Weise, die Schönheiten des Landes zu erleben. Betina Palenzuela Corcho und Aili Labañino berichten, wie Terroranschläge gegen Kuba von den USA geduldet, zugleich jedoch Menschen verfolgt werden, die diesen Verbrechen ein Ende setzen wollen. Von alldem ist in einem derzeit in Schweizer Kinos laufenden Film nicht die Rede, mit dem sich Samuel Wanitsch auseinandersetzt. Und schließlich stimmt Kubas Vizepräsident Miguel Díaz-Canel Bermúdez auf die Olympischen Spiele ein, die für die Kubaner ebenfalls ein Kampfplatz zur Verteidigung ihrer Revolution sind.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/264885