Behinderte Menschen sind von der andauernden Wirtschaftskrise
besonders stark betroffen – und das international. Die
britische Politikwissenschaftlerin Alison Sheldon prognostiziert
steigende Erwerbslosigkeit und macht darauf aufmerksam, daß
schon jetzt die Beschäftigungsraten behinderter und
nicht-behinderter US-Amerikaner verstärkt auseinanderdriften.
Die Einschränkung wichtiger Leistungen des Gesundheitssystems
werde möglicherweise zu einer Verringerung der Lebenserwartung
Behinderter führen. Es sei an der Zeit, ökonomische
Theorie zu büffeln. Als ermutigendes Zeichen wertet Sheldon
deshalb, daß sich die Verkaufszahlen von Karl Marx’
»Kapital« in der BRD im Jahr 2008 verdreifacht haben
sollen.
Hierzulande antworten die Regierenden auf die Krise wenig
überraschend mit Geldgeschenken für die Reichen
einerseits und dem »größten Sparhammer in der
Geschichte der Bundesrepublik« (Stern, 7.6.2010)
andererseits. Der Hammerschlag trifft unmittelbar vor allem die
Erwerbslosen und ihre Kinder. Gekürzt wird auf der Bundes- und
der Länderebene. Übergangsgeld, Elterngeld und
Rentenbeiträge werden gestrichen sowie der Zugang zu
Eingliederungsmaßnahmen erschwert. Die schwarz-gelbe
Regierung Schleswig Holsteins plant für 2011 eine Halbierung
des Blindengeldes (Kieler Nachrichten, 1.7.10).
Moral statt Politik
Die Auswirkungen der Kürzungen werden von den Regierenden
freilich geleugnet. So erklärte etwa Finanzminister Wolfgang
Schäuble: »Wer dauerhaft von der Gemeinschaft
abhängig ist, Alte oder Behinderte, wird von unserem Sparpaket
nicht getroffen werden.« Und die Arbeitsministerin Ursula von
der Leyen erklärte, sie sei auch für »Rentner,
Witwen, Waisen und Behinderte« zuständig; sie wolle sich
schützend vor jene stellen, die an ihrer Lebenssituation
nichts ändern könnten. Erwerbslose hingegen könnten
etwas ändern, »wenn es uns gelingt, sie in Arbeit zu
bringen« (ddp, 8.6.2010).
Mit den Tatsachen der Sparpolitik haben diese Aussagen nichts zu
tun, dafür gewähren sie Einblick in Denkungsart und
Ideologie der Regierenden. Schäuble, Jahrgang 1942, scheint
sich selber nicht zu den Alten und Behinderten zu zählen.
Demokratisch wäre es gewesen, hätte er sie nicht als
»Abhängige«, sondern in ihrer Eigenschaft als
Staatsbürger angesprochen. Seine Rede von der
»Gemeinschaft« erlaubt ihm, vom Staat zu schweigen und
politische Fragen in moralische umzubiegen. Kein Mensch weiß,
was er von einer obskuren »Gemeinschaft« zu erwarten
hat; gegenüber einem Staat kann er, zumindest theoretisch,
Rechte einklagen. Wer von »Abhängigkeit« bei den
einen spricht, unterstellt zugleich
»Unabhängigkeit« bei den anderen. Wenn Banken
Staatshilfen in Milliardenhöhe erhalten, scheint dies deshalb
wohl nicht als »Abhängigkeit« zu gelten.
Von der Leyen ruft »Witwen und Waisen« auf und stellt
sich damit in die Tradition einer bis ins antike Babylon
zurückreichenden Formel der Herrschaftslegitimation; Rentner
und Behinderte gesellt sie problemlos dazu. Den Erwerbslosen
dagegen empfiehlt sie zwischen den Zeilen, nicht auf der faulen
Haut zu liegen, sich redlich zu bemühen und an jene zu denken,
denen es noch schlechter geht.
Die Minister kultivieren ein bemerkenswertes Schubladendenken. Sie
tun so, als ob ein Mensch immer nur eines sein könne, entweder
lohnabhängig oder behindert. Wenn Behinderte erwerbslos sind,
dann trifft auch sie der »Sparhammer« mit voller Wucht.
Übrigens verteilt Frau von der Leyen an sie keine Almosen.
Besondere arbeitsplatzbezogene Eingliederungshilfen zum Beispiel
werden aus sogenannten »Ausgleichsabgaben« finanziert.
Diese müssen die Unternehmen an den Staat zahlen, wenn sie die
gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquote für
behinderte »Arbeitnehmer« unterschreiten.
Streichungspläne
Wie immer man die Aussagen der beiden Politiker dreht und wendet,
sie sind nicht wahr. Wie Financial Times Deutschland (23.7.10)
berichtet, sammelt eine Arbeitsgruppe im Auftrag von der Leyens
»weitere Sparideen«. Für einen Teil der
Betroffenen ist die Nutzung des oft nicht behindertengerechten
öffentlichen Personennahverkehrs bisher gratis. Dieser
sogenannte Nachteilsausgleich könnte, den Vorschlägen aus
dem Arbeitsministerium gemäß, bald gestrichen werden.
Auch soll »der Zugang zu Behindertenwerkstätten
(…) für alle beschränkt werden, die einen Anspruch
auf eine Erwerbsminderungsrente haben«.
Um die Werkstattarbeitsplätze als solche wäre es nicht in
jedem Fall schade. Oft bedeuten sie Aussonderung und viel Arbeit
für wenig Geld. Aber mit ihnen würden nicht nur
Verdienstmöglichkeiten wegfallen, um die bescheidene Rente
aufzubessern, auch die sozialen Beziehungen vieler behinderter
Menschen müßten erheblich darunter leiden. Bisher nicht
vorgesehen ist eine Intensivierung der Bemühungen, alternative
Beschäftigungsmöglichkeiten für Behinderte in
regulären Betrieben zu schaffen.
Über weitere Baustellen der Behindertenpolitik und Beispiele
der Behindertenkultur informiert diese Beilage. Der
österreichische Schriftsteller Erwin Riess erzählt von
seinem neuen Roman »Herr Groll und der rote Strom«, von
der Linken und der Donauschiffahrt. »Sex & Drugs &
Rock & Roll« heißt ein neuer Film über das
Leben Ian Durys, den Michael Zander bespricht. Thomas Wagner hat
herausgefunden, daß es auch zehn Jahre nach ihrer
demonstrativen Umbenennung in »Aktion Mensch« noch
immer eine »Aktion Sorgenkinder« gibt – bei der
Bundeswehr. Über die Situation behinderter Flüchtlinge in
Berlin berichtet Eva Gebel. Udo Sierck rezensiert ein Buch von
Anne-Dore Stein über den Nazitäter Wilhelm Polligkeit. Zu
guter Letzt kommentiert Barbara Stötzer-Manderscheid,
gesundheitspolitische Sprecherin der »Interessengemeinschaft
Selbstbestimmt Leben«, Mängel im Gesundheitssystem und
zu erwartende Auswirkungen der angekündigten
»Reformen«.