Die Zahlen sind bekannt, die Probleme nicht neu. Die Ernährung
einer wachsenden Weltbevölkerung ist spätestens seit den
Beschlüssen der Generalversammlung der Vereinten Nationen im
Jahr 2000 zu den sogenannten Millennium Development Goals (MDG,
Millenniumsentwicklungszielen) ein weltpolitisches Hauptthema. Mehr
als eine Milliarde Menschen sind nach Angaben der Ernährungs-
und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO)
dramatisch unterernährt. Dabei hatten sich die
UN-Mitgliedsstaaten vor zehn Jahren vorgenommen, die Zahl der
Hungernden zu halbieren. Statt dessen ist sie insbesondere infolge
der krisenbedingten Lebensmittelpreisexplosion 2007 dramatisch
gestiegen. Eine Ursache dafür war, daß
Grundnahrungsmittel zunehmend für die Biospritproduktion
eingesetzt und damit in Konkurrenz zu Lebensmitteln zu hohen
Preisen gehandelt werden.
Seither haben sich zahlreiche Politiker und Organisationen die
Sicherung der Welternährung auf die Fahnen geschrieben. So hat
die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung bisher 270 Millionen Dollar in
die in der Consultative Group on International Agricultural
Research (CGIAR, Beratungsgruppe für internationale
Agrarforschung) vertretenen Institute und über eine Milliarde
direkt in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer
investiert. Als Grund für sein Engagement gibt Gates an,
daß sich noch keine Region ökonomisch weiterentwickelt
habe, ohne daß erst einmal die Agrarproduktion erhöht
worden wäre. Von Globalisierungskritikern wird Gates jedoch
vorgeworfen, direkt als Türöffner für die
Agrarmultis der USA zu wirken. Zum anderen wird befürchtet,
daß durch seinen Einfluß vor allem die industriell
geprägte Landwirtschaft gefördert wird. Tatsächlich
ist die CGIAR ein maßgeblich von der Rockefeller- und der
Ford-Stiftung geschaffenes Netzwerk, das dem US-Agrobusineß
Zugang zu neuen Märkten verschafft – und heute
beträchtlichen Einfluß auf die UN-Organisationen FAO und
die Weltbank hat.
Die Art, wie wir Landwirtschaft betreiben, wirkt sich direkt auf
Gesundheit, Umwelt und Chancen für die wenig entwickelten
Regionen unserer Welt aus. Dabei findet sich heute neben Unter- und
Mangelernährung Fehl- und Überernährung im gleichen
Land. Weltweit sind rund 1,6 Milliarden Menschen
übergewichtig, zunehmend auch in Entwicklungsländern.
Diese doppelte Belastung wird mit dem Fachbegriff »Nutrition
Transition« erfaßt.
Fehl- und Überernährung belastet die Volkswirtschaften
mit hohen Kosten und überfordert ein oft nur mangelhaft
entwickeltes Gesundheitswesen. So sind in Nigeria rund sechs
Prozent der Frauen übergewichtig, in Brasilien hat sich
Präsident Ignacio Lula da Silva gar mit einem Aufruf zur
gesünderen Ernährung an seine Landsleute gewandt. Schuld
an dieser Entwicklung sind Verstädterung, veränderte
Konsumgewohnheiten mit einem hohen Anteil an verarbeiteten
Lebensmitteln mit hohem Zucker- und Fettgehalt und wenig
Bewußtsein für gesundes Ernährungsverhalten. Die
globalisierte Lebensmittelindustrie hat dazu maßgeblich
beigetragen, denn ihre Produkte verdrängen die traditionelle
fett- und zuckerarme Ernährung, die reich an
Mikronährstoffen ist.
Immer mehr Chemie
Umweltschäden und Landwirtschaft stehen in einem
ursächlichen Zusammenhang. Intensiver Ackerbau und der massive
Einsatz von Agrochemie haben zu einem beispiellosen Verlust der
Artenvielfalt beigetragen. Laut Weltagrarbericht (IAASTD) sind in
den letzten 50 Jahren drei Viertel der genetischen Basis der
Nutzpflanzen verlorengegangen. Die sogenannte grüne Revolution
hat mit ihrem uniformen, ertragreichen Hochleistungssaatgut, der
exzessiven Anwendung von Kunstdünger und Pestiziden diese
Entwicklung vorangetrieben. Andererseits hatten bereits 1993 rund
700 Schädlinge, 200 Krankheitskeime und 30 Unkräuter
aufgrund des übermäßigen Einsatzes Resistenzen
gegen Pestizide entwickelt. Bekämpft wird das Problem mit noch
höheren Dosierungen und noch giftigeren Mischungen.
Bei all dem wird der Boden, die wichtigste Ressource für
Lebensmittelproduktion und Lebensmittelsicherheit,
stiefmütterlich behandelt. Erosion, Überweidung, die
Abkehr von vielfältigen Fruchtfolgen haben seine Fruchtbarkeit
weltweit dramatisch reduziert. »Bodenverschlechterung in all
ihren Formen stellt eine Gefahr für die Lebensmittelproduktion
und den Lebensunterhalt in ländlichen Gebieten dar, vor allem
in den ärmsten Regionen der Entwicklungsländer«,
hieß es 2008 in einem UN-Bericht.
Die Landwirtschaft ist für 70 Prozent des weltweiten
Süßwasserverbrauchs verantwortlich und trägt
erheblich zur Wasserverschmutzung bei. Fast drei Viertel des
ausgebrachten Düngers werden nicht von den Pflanzen
aufgenommen, sondern gelangen in das Grundwasser, in Flüsse
und Seen. Dort führen Stickstoff und Phosphat zu
Überdüngung und erheblichen Schädigungen der
Ökosysteme. In einigen Regionen besteht bereits heute akuter
Wassermangel. Der Weltagrarbericht warnt deshalb vor zunehmenden
gesellschaftlichen, aber auch zwischenstaatlichen Konflikten bis
hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Kriegen um Wasser.
Trotzdem importieren die sehr gut mit Wasser versorgten Länder
des Nordens weiter sogenannte Cash-Crops (Marktfrüchte) wie
Mais, Soja und Baumwolle aus wasserarmen Regionen Afrikas und
Lateinamerikas – und tragen so maßgeblich zur
Verschärfung des Mangels bei. Getreide- und
Eiweißpflanzenimporte werden zudem überwiegend zur
Viehfütterung eingesetzt.
Gretchenfrage Gentechnik
Welche Agrarforschung brauchen wir angesichts dieser noch latenten
Konflikte? Die einseitig auf Ertragssteigerung fixierte
Herangehensweise in den Industriestaaten hat offensichtlich
versagt. Die meisten Hungernden wohnen in den
Entwicklungsländern auf dem Land, das sie eigentlich
ernähren könnte, während in der wohlhabenderen
Stadtbevölkerung auch in Entwicklungsländern eher Fehl-
und Überernährung um sich greifen. Wenn man als Hauptziel
der Wissenschaft die Sicherung des Menschenrechts auf Nahrung
setzt, liegt es auf der Hand, daß eine eigenständige
Ernährungsforschung gleichberechtigt zur Agrarforschung
gefördert werden müßte. Denn Ernährung ist
weit mehr, als kalorisch satt zu werden. Die staatlich finanzierte
Agrarforschung hat die Pflege traditioneller Anbausysteme und
Kulturen völlig vernachlässigt. Überliefertes Wissen
und viele regionale Sorten sind so zum Teil unwiederbringlich
verlorengegangen. Dabei kann gerade die Förderung und Nutzung
der genetischen Vielfalt bei Pflanzen dank der Fähigkeit zur
Anpassung an verschiedene Bedingungen wesentlich zur
Ernährungssicherung beitragen.
Die Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts lautet: »Wie
hältst du es mit der Gentechnik?« Die Bundesregierung
hat sich in ihrem Koalitionsvertrag entschieden: Gentechnik kann
– und soll – zur Sicherung der Welternährung
beitragen. Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU)
verkündet diesen Glaubenssatz in jeder Diskussion zur
Pflanzenforschung. Mit Gentechnik könne man das Saatgut am
besten optimieren, sagen deren Befürworter. Doch welchen
Anteil hat das Saatgut an der Verfügbarkeit von Nahrung und
Einkommen in der Landwirtschaft? Urs Niggli, Direktor des
Forschungsinstitutes für biologischen Landbau in Frick
(Schweiz), beziffert den Einfluß des Saatgutes auf den Ertrag
mit sechs bis neun Prozent, Biotech-Lobbyverbände dagegen mit
bis zu 40 Prozent.
Bemerkenswert ist aber die Aussage eines Vertreters der
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), einer der
staatlichen Entwicklungshilfeorganisationen in Deutschland. Auf
einer Veranstaltung zum Beitrag der Agrarforschung zur
Welternährung im Bundestag erklärte er, Nachernteverluste
bzw. deren Vermeidung hätten einen überragenden
Einfluß auf die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, den er
mit 40 bis 70 Prozent bezifferte.
Gigantische Verluste
Nachernteverluste entstehen durch natürliche Prozesse wie
Atmung oder Verdunstung ebenso wie durch mechanische
Beschädigung oder Schädlinge und Krankheiten.
Interessanterweise hängen diese Faktoren eng mit dem Anbau
zusammen, zum Beispiel über die Düngung, die
Bewässerung und den Grad des Schädlingsbefalls im
Erntegut. Früher ging man davon aus, daß hohe
Nachernteverluste aus fehlendem Wissen der Bauern resultieren. Doch
inzwischen ist deutlich geworden, daß gerade
Hochertragssorten viel empfindlicher auf Schädlinge reagieren,
viel mehr Pflege brauchen – und die Bauern mit den neuen
Anbausystemen alleingelassen wurden. Das Problem wurde und wird
bislang vor allem mit dem Einsatz von Pestiziden zur
Schädlingsbekämpfung im Erntegut
»gelöst«.
Nach einer Studie des auf den Philippinen ansässigen
Internationalen Reisforschungsinstituts IRRI (das zur o.g.
Beratungsgruppe CGIAR gehört) betragen die Nachernteverluste
bei Reis in Südostasien zwischen zehn und 37 Prozent. Sie
fallen bei der Ernte, beim Dreschen, während des Trocknens,
bei Lagerung und Transport an. Weltweit werden die
Nachernteverluste bei Körnerfrüchten auf rund ein Drittel
der Gesamtmenge geschätzt. Bei Gemüse und Obst
dürften sie aufgrund schlechter Infrastruktur
(Kühlhäuser, Transportmittel, Straßen) in vielen
Ländern weit höher liegen.
Bei der FAO ist das Problem bereits Mitte der 70er Jahre
identifiziert worden. Sie hat ein eigenes Programm dagegen
erstellt. Die GTZ unterstützt das entsprechende
Forschungsnetzwerk »Information Network on Post harvest
Operations«. In der deutschen Entwicklungshilfe wird das
Thema dagegen noch immer wenig beachtet – vielleicht auch aus
Enttäuschung darüber, daß bisherige technische
Lösungen oft lediglich zu
»Maschinenfriedhöfen« in den so
»unterstützten« Ländern führten.
Daß häufig eher sozioökonomische als
technologieorientierte Ansätze erforderlich sind, wird weiter
häufig übersehen.
Wegwerfgesellschaft
Hinzu kommt, daß in Europa 30 Prozent aller Lebensmittel
weggeworfen werden. In den USA sind es gar unglaubliche 50Prozent.
Betrachtet man also die Gesamtmenge der verfügbaren
Nahrungsmittel, wäre eine Versorgung aller Menschen
theoretisch problemlos möglich. Und sie wäre es auch ohne
weitere Ertragssteigerungen. Darauf zu verzichten, wäre zudem
umweltpolitische und gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit, denn
heute werden für die Erzeugung einer pflanzlichen Kalorie zehn
Kalorien an fossilen Energien verbraucht. Nachhaltig wäre
dagegen nur eine ressourcenschonende und -erhaltende
Landwirtschaft. Eine Ökologisierung wird inzwischen sogar in
einer vom »Think Tank« der Deutschen Bank, DB Research,
veröffentlichten Studie unter dem Titel »Lebensmittel
– eine Welt voller Spannung« angemahnt. Darin wird den
Kleinbauern eine Schlüsselrolle bei der Sicherung der
Welternährung zugeordnet. Der Bioökonomierat der
Bundesregierung verkündet dagegen, weitere Ertragssteigerungen
seien erforderlich, um die Ernährung von neun Milliarden
Menschen (Schätzung für das Jahr 2050) und die Erzeugung
von Bioenergie und Biomasse für die Industrie
sicherzustellen.
Neben dem Konflikt zwischen dem Anbau von Nahrungsmitteln und dem
von Biomasse etwa für die Gewinnung von Kraftstoffen oder
Energie wird der wachsende Fleischkonsum immer mehr zum Problem.
Die Zahl der Nutztiere, die Milch, Fleisch und Eier liefern, wird
bis 2050 voraussichtlich auf 30 Milliarden anwachsen. Dies
würde bedeuten, daß für einen großen Teil der
Menschheit weiter nicht genug Nahrung zur Verfügung
stünde. Denn zur Produktion einer tierischen Kalorie werden
bis zu neun pflanzliche gebraucht. Also wäre ein Wandel im
Ernährungsverhalten – und in der Struktur der
Agrarwirtschaft der Industriestaaten– dringend nötig. Es
würde beispielsweise viel ausmachen, wenn hierzulande jeder
die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
berücksichtigen würde, wonach ein Fleischkonsum von 20
Kilogramm pro Kopf und Jahr gesund wäre. Derzeit verbraucht
laut Statistik in Deutschland jeder Einwohner 80 Kilogramm.
Die Autorin ist beim Naturschutzbund Deutschland (www.nabu.de)
Fachreferentin für Agrogentechnik und Biodiversität.
CGIAR, Beratungsgruppe für internationale Agrarforschung:
www.cgiar.org
Internationales Reisforschungsinstitut:
www.irri.org
Information Network on Post-harvest Operations:
www.fao.org/inpho
Die vom Deutsche-Bank-»Think Tank« veröffentlichte
Studie im Internet:
www.db.com/mittelstand/downloads/Lebensmittel_250909.pdf.
Aus diesem Dokument stammt auch die Aussage zur Zahl der
Schädlingsresistenzen im Artikel.