Alfred Kock (35) war Tauchermeister. Mehrfach hatte er im Januar
1919 seine Dienste dem untersuchenden Kriegsgerichtsrat (KGR) der
Garde-Kavallerie-Schützen-Division (GKSD) Paul Jorns
angeboten. Doch der hatte ihn immer vertröstet. Kocks Angebot
bestand darin, das trübe Wasser des Landwehrkanals von
oberhalb der Lichtensteinbrücke bis zur Freiarchenbrücke,
also etwa 400 Meter, abzusuchen und zwar nach der Leiche von Rosa
Luxemburg. Erst als der ehemalige Parteivorsitzende der SPD und
Volksbeauftragte Hugo Haase (jetzt USPD) in einem Brief auf die
Fähigkeiten Kocks hinwies und Zeugenaussagen zitierte,
daß sechs Soldaten, darunter ein Offizier mit weißer
Armbinde und Pelzkragen in der Nacht des 15. Januar 1919 in aller
Eile »über das Gesträuch« einen
»menschlichen Körper mit Frauenhaar in den Kanal«
warfen, konnte Jorns nicht mehr zurück. Jorns hat, wie
später nachgewiesen, vertuscht und verdunkelt, wo es ging.
Haase wiederum wurde ein halbes Jahr nach seinem Brief an die GKSD
Opfer eines Attentats.
Taucher Kock bekam schließlich den Auftrag. Ab dem 18.
Februar 1919 gelang es ihm, Quadratmeter für Quadratmeter des
Kanals der Strecke zwischen Lichtensteinbrücke und
Freiarchenbrücke abzusuchen. Er förderte so allerhand
zutage, z. B. unzählige Gewehre und drei Wasserleichen. Eine
männliche und zwei weibliche. Doch die Leiche der Frau
Luxemburg war nicht dabei.
Am Samstag morgen, dem 31. Mai 1919, gegen 5 Uhr 45 entdeckte
jedoch der Schleusenarbeiter Gottfried Knepel, 76 Jahre alt, wenige
Meter nach der Freiarchenbrücke, direkt unter dem Bogen der
Stadtbahnbrücke – also kurz hinter der Strecke, die Kock
abgesucht hatte – eine weibliche Leiche. Knepel gibt an,
daß die Kleidung nur noch als Stoffetzen an der Leiche
hingen, daß sie allerdings mit schwarzen Strümpfen, die
ihr bis über die Knie gingen, bekleidet war.
Ein weiterer Zeuge, Franz (Pranes) Penkaitis, ein litauischer
Legationssekretär, der sich auf dem Morgenspaziergang befand,
nahm ebenfalls die, wie er aussagte, mit Handschuhen bekleidete
Leiche wahr.
Der Polizeileichendiener Fritz Eberhardt im Leichenschauhaus in der
Hannoverschen Straße 6 (das zur Charité gehörte)
wurde von der Polizei per Telegramm benachrichtigt, die Leiche
abzuholen.
Gegen 10 Uhr wurde die Leiche von ihm mit einem Leichenwagen
abgeholt.
Ein Begleitschein zur Ablieferung einer Leiche wurde
ausgefüllt über »eine unbekannte, anscheinend schon
lange im Wasser liegende Leiche weiblichen Geschlechts.«
Daß die Kleider nur in Fetzen an der Leiche hingen, wird hier
nicht erwähnt, aber auch nicht ausgeschlossen. Die Angaben des
Polizeiwachtmeisters Keppler sind zum Teil ungenau
(Größe, Alter). Gleichwohl werden Rock, Strümpfe
und die braunen Glacehandschuhe aufgezählt. Die Leiche wird
als unbekannt benannt.
Jedoch sagte der Leichendiener Eberhardt am 3. Juni 1919 unter Eid
aus, er habe vermutet, daß es sich um die Leiche Rosa
Luxemburgs gehandelt habe und daß er den Corpus in einen
besonderen Raum des Leichenschauhauses habe bringen lassen. Der
Chef der Kriminalpolizei, Oberregierungsrat Hoppe, wurde
verständigt und schickte am Vormittag des 31.Mai 1919 einen
Beamten vorbei, der Eberhardt verbot, Kleiderabschnitte – wie
das sonst offensichtlich üblich war – zu entnehmen.
Jedoch gab Eberhardt zu Protokoll: »Etwas Zeug hatte ich
schon vorher abgeschnitten, auch ein kleines goldenes Medaillon,
das an einem schmalen Samtband der Leiche um den Hals hing. Es ist
das mir vorgezeigte Medaillon.«
Ein Schreiben des Polizeipräsidenten von Berlin an KGR
Ehrhardt bestätigt, daß der Leichendiener Eberhardt den
»bei der Leiche vermutl.[icher] Luxemburg gefundene[n]
Anhänger« und »ein Stück des Kleides«
übersende. Außerdem seien bei der Leiche weitere
»Kleiderreste sowie Handschuhe und Strümpfe«
verblieben.
Der zuständige Kriegsgerichtsrat Ehrhardt von der GKSD
notierte in einem Vermerk am 2.Juni 1919, daß am 31.Mai 1919,
gegen 0 Uhr, Hoppe und der Polizeipräsident von Berlin, Eugen
Ernst, die Frauenleiche besichtigt hatten. Die Leiche sei
(abweichend von den ersten offensichtlich ungenauen Polizeiangaben)
»sehr klein, 1,46 groß, hat sehr kleine Hände und
Füße, graumeliertes Haar. Es sieht so aus, als ob die
Nase gebogen und der Körper etwas verwachsen ist.« Die
»äußeren Anzeichen sprachen nach Ansicht des
Zeugen und des Polizeipräsidenten dafür, »daß
die gefundene Leiche die der Frau Luxemburg ist.«
Nachrichtensperre
Ein anderer Zeuge der Leichenbergung am Landwehrkanal, ein
Sozialdemokrat namens Otto Fritsch, wollte die Identität der
Leiche ebenfalls erkannt haben und rief am 31. Mai 1919 den
Vorwärts, das Zentralorgan der SPD, an. Doch weder am Samstag
noch am Sonntag fand er eine Meldung vor. Der Grund dafür:
Noske war an jenem Samstagabend (31.Mai 1919), als er gerade im
Hause des ehemaligen Chefs der Hochseeflotte, Admiral von
Holtzendorff, weilte, von seinen aufgeregten, dem rechten
Flügel zugerechneten Parteikollegen Wolfgang Heine
(Preußischer Innenminister) und dem Polizeipräsidenten
Eugen Ernst unterrichtet worden, daß man »sie«
gefunden habe. Noske verhängte sogleich eine Nachrichtensperre
(worüber »er« nicht berichtete) und ließ die
Leiche ins Garnisonslazarett des Truppenübungsplatzes Zossen
zu seinen militärischen Verbündeten im Süden von
Berlin transportieren. Eberhardt mußte die Leiche herausgeben
und verpackte sie dazu in Ölpapier, Sackleinwand und eine
Wachstuchdecke. Er tat ersteres nur, weil der Chef der
Kriminalpolizei (Hoppe) persönlich es ausdrücklich von
ihm verlangte. In Zossen war u.a. das Sturmbataillon Schmidt
stationiert, das ebenfalls zur GKSD von Hauptmann Pabst
gehörte und in dem Hermann W. Souchon, der Mörder Rosa
Luxemburgs, seinen Dienst tat (sic!).
Noske nahm wie seine Parteifreunde an, die sterblichen
Überreste Rosa Luxemburgs seien gefunden.
Selbst vor der Leiche dieser Frau fürchtete man sich also
noch. Und Noske sprach eine deutliche Sprache: Ȇber die
rechtliche Zulässigkeit eines solchen Verfahrens stellte ich
Betrachtungen nicht an.« Solcherart Vorgehen verletzte aber
nun die Ehre des KGR Ehrhardt von der GKSD, offiziell oberster Herr
des Verfahrens. Die »beleidigte Justiz« (Noske) machte
dem Oberbefehlshaber in den Marken und inzwischen auch
Reichswehrminister Vorhaltungen, er habe in ihre Befugnisse
eingegriffen. Noske, sonst sehr erpicht darauf, der GKSD nicht in
die Parade zu fahren, kanzelte Ehrhardt ab.
Die Untersuchung
Mathilde Jacob, der langjährigen Freundin und Sekretärin
Luxemburgs, die vermutete, Noske müsse »ein Interesse an
dem leblosen Körper haben«, wurde nun von dem
brüskierten Ehrhardt gestattet, »einen von uns
gewählten Arzt in ihrem Auto nach Zossen mitzunehmen, damit
dieser den Obduktionsbefund der Gerichtsärzte nachprüfen
könnte.« Doch der Vertreter Theodor Liebknechts, Dr.
Siegfried Weinberg, lehnte ab – man würde damit das
Gericht der GKSD anerkennen.
Frau Jacob war nicht einverstanden, da sie sich zu Recht
Aufschluß über »die Art der Ermordung«
erhoffte. Verzweifelt suchte sie Unterstützung: Zwei
Ärzte »fürchteten für ihr Leben«, ein
anderer hielt seine Zusage nicht ein. Maxim Zetkin, den Sohn Clara
Zetkins, Bruder des zeitweiligen Lebensgefährten Rosa
Luxemburgs, Kostja Zetkin, und selbst Arzt, konnte sie nicht
erreichen. Die Obduktion fand so ohne einen Vertrauensarzt der Frau
Jacob (und auch ohne sie) statt.
Am 3. Juni 1919 nahmen der Geheime Medizinalrat Dr. Fritz
Strassmann und Professor Dr. Paul Fraenckel die Untersuchung an der
stark verwesten Leiche vor. Es war die Leiche, die Knepel –
wie er eidlich bestätigte – unter der
Stadtbahnbrücke aus dem Landwehrkanal gezogen hatte. Sie war
für die Obduktion komplett entkleidet worden. Es wurden auch
noch zwei Fotos von der Firma Photo-Stadie, Wünsdorf,
gemacht.
Auch Fraenckel und Strassmann nahmen wohl an, die Leiche Rosa
Luxemburgs vor sich zu haben, denn Fraenckel vermerkte: »Ich
habe Frau L.[uxemburg] vor vielen Jahren selbst gesehen.«
Fraenckel zeigte sich jedoch außerstande, wie auch einige
andere Zeugen, Frau Luxemburg in dieser Leiche wiederzuerkennen.
Also wurde der Name Luxemburg im weiteren Protokoll nicht mehr
genannt. Dies ist auch verständlich, denn die Leiche war noch
nicht eindeutig identifiziert.
Sie sei 146 cm lang und »die Gegend der linken Hüfte ist
nach außen ausgeschweift.« Die »freiliegende
Lederhaut« sei »am Rumpf und Armen offenbar durch
Kleiderfarbstoff blaugefleckt«. Zwischen linkem Auge und Ohr
stellten sie eine sieben Millimeter breite »rundliche
Öffnung« fest. Sie entdeckten einen Bruch der
Schädelgrundfläche, einen Sprung, der in »seinem
mittleren Abschnitt« eine »kanalförmige
Gestalt« habe. In diesen »Kanal« lasse sich
»eine Sonde aus der oben erwähnten Hautöffnung
einführen.« Der Kanal lasse sich auch »auf der
rechten Seite (...) weiter verfolgen.«
Strassmanns und Fraenckels Annahme: »Dieser Schädelbruch
ist höchstwahrscheinlich die Folge eines Schusses, der vor dem
linken Ohr eingetreten und am rechten Unterkiefer ausgetreten ist,
den Schädel also ziemlich quer und etwas nach unten durchsetzt
hat.« Außerdem stellten die beiden Forensiker fest:
»Die Wirbelsäule ist im Brustteile etwas nach links und
hinten, im Bauchteil etwas nach rechts und vorn ausgebogen.«
Eine »meßbare Verkürzung der Beine besteht nicht
(…) Verletzungen, die mit Sicherheit auf Kolbenschläge
zurückzuführen sind, hat die Leichenöffnung nicht
ergeben.«
Auf Befragen geben sie an, daß die Verstorbene eine
»mäßige alte
Wirbelsäulenverkrümmung« habe. Eine Ursache
für eigentliche »Lahmheit« oder »einen
watschelnden Gang« habe man nicht festgestellt. Die Leiche
habe mindestens zwei Monate im Wasser gelegen und sei zwischen 40
und 50 Jahre alt. Die beiden Rechtsmediziner behielten sich ein
ergänzendes Gutachten nach Abschluß der mikroskopischen
Untersuchung vor.
Identifizierung
Am nächsten Tag, am 4. Juni 1919 wurde Matilde Jacob –
und zwar im Eden-Hotel, von wo aus Hauptmann Pabst den Doppelmord
gesteuert hatte – zur Sache vernommen. Sie erkannte den
»mir vorgelegten goldenen Anhänger« mit
»voller Bestimmtheit als den der Frau Luxemburg wieder (...)
sie trug diesen Anhänger an einem schwarzen Samtband um den
Hals, das hinten mit Druckknopf verschlossen war.« Die
Fotografien der Leiche wollte sie nicht ansehen. Der blaue
»Samtstoff, das schwarze Samtband und die Handschuhe sehen
auch so aus, als wenn sie von Frau Luxemburg herrühren. Das
Samtband von R. L. war dunkelblau (marineblau). Die Farbe ist jetzt
vom Wasser ausgezogen.« Am gleichen Tag wurde auch Maxim
Zetkin im Eden-Hotel vernommen. Er sah sich die Leichenfotos an,
konnte aber Rosa Luxemburg nicht wiedererkennen. »Das
Nasenprofil scheint zu stimmen.« Außerdem gab er an,
daß sie »hinkte, aber hauptsächlich, wenn sie
müde war.«
Wanda Marcusson wiederum, ebenfalls eine Freundin von Rosa
Luxemburg, in deren Wohnung sie am 15. Januar 1919 in der
Mannheimer Straße 47 verhaftet worden war, gab an, daß
Rosa Luxemburg das marineblaue Samtkleid in dieser Nacht getragen
hatte, »Ich erkenne in dem mir vorgezeigten Stoffrest mit
Bestimmtheit einen Überrest ihres Kleides wieder.« Sie
erkannte auch das Samtband wieder, das Rosa Luxemburg um den Hals
getragen hatte, ebenso die »dunkelrotbraune (n)«
Handschuhe, »die ziemlich neu waren« und die »bis
über das Knie hinaufgehende (n) schwarzen Strümpfe, die
ich ihr geliehen hatte.« Dies stimmt überein mit der
Aussage des Leichendieners Fritz Eberhardt, daß er einen
»Tuchabschnitt von blaugrünem Samt« der Leiche
abgenommen hatte, wie mit der Aussage Knepels von den schwarzen
Strümpfen bis übers Knie und den mehrfach bekundeten
Aussagen über die Handschuhe. Alles Stücke, die Mathilde
Jacob und Wanda Marcusson vorgelegt wurden.
Damit war aufgrund der ohne Zweifel an der Leiche gefundenen blauen
Samt-Kleidungsstücke, sowie der Handschuhe, der schwarzen
Strümpfe und des Medaillons, das an einem schwarzen Samtband
zugeknöpft wurde, als auch durch die blauen Kleiderfarbreste
auf der Haut, die Tote als Rosa Luxemburg eindeutig identifiziert.
Der festgestellte Kopfschuß entsprach außerdem den
Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung vom Mai 1919. (...)
Die Leiche wurde freigegeben, von Mathilde Jacob am 5. Juni 1919 in
Zossen abgeholt und zurück nach Berlin gebracht. Frau Jacob
sah nun jeden Tag im Leichenschauhaus nach, ob die Leiche noch da
sei. Am 13. Juni 1919 wurde Rosa Luxemburg unter großer
Anteilnahme der Bevölkerung, insbesondere der Arbeiter,
beigesetzt.
Am gleichen Tag wiederum legten Strassmann und Fraenckel ihr
angekündigtes Nachtragsgutachten vor, nachdem die
mikroskopische Untersuchung abgeschlossen war. Jetzt, nachdem die
Leiche als die von Rosa Luxemburg identifiziert war, nannten sie
sie auch so. Beide Fachleute waren sich einig, daß der Tod
durch die Sprengung der Schädelgrundfläche eingetreten
war. Zur Frage, ob diese durch die Kolbenschläge oder den
Schuß verursacht war, sagten sie aus: daß der erste
Kolbenschlag Runges »entgegen der ursprünglichen
Vermutung (...) eine Verletzung des Schädeldaches nicht
herbeigeführt« habe.
Ähnliches geschah mit Liebknecht, der ebenfalls von Runge mit
dem Kolben am Kopf geschlagen wurde und ebenfalls danach einen
(tödlichen) Kopfschuß erhalten hatte, allerdings nicht
in den Landwehrkanal geworfen worden war. Auch bei ihm konnte
Strassmann eine Schädelverletzung durch den Kolbenschlag nicht
feststellen.
Der zweite Schlag, den Runge auf die schon am Boden liegende Rosa
Luxemburg geführt hatte, habe sehr wahrscheinlich »die
Absprengung eines Stückes des Zahnfortsatzes vom
Oberkiefer« verursacht. Dies könne eine erhebliche
Blutung bewirkt haben, die ja auch von einer Hotelangestellten
bemerkt wurde.
Doch die Hauptverletzung, die Sprengung der
Schädelgrundfläche, führten sie erneut auf etwas
anderes zurück. Sie nahmen an, daß die
»Durchtrennung des Unterkiefers rechts die Folge eines
Schusses war, der links vor dem Ohr eintrat und auf der
gegenüberliegenden Seite etwas tiefer austrat. Ein solcher
Schuß quer durch den Kopf mit einer Armeepistole abgegeben,
würde die schweren Sprengwirkungen, die sich fanden,
vollkommen erklären« Zusammenfassend schrieben sie:
»Frau Luxemburg hat durch den ersten Kolbenschlag des Runge
eine schwere Gehirnerschütterung ohne Knochenverletzung
davongetragen.« Der »zweite Kolbenschlag hat den Bruch
des Zahnfortsatzes des Oberkiefers herbeigeführt. Der
später erfolgende Schuß ist vor dem linken Ohr
eingetreten, am rechten Kieferwinkel ausgetreten, (...) er hat die
schwere Sprengung der Schädelgrundfläche bewirkt«.
Der Schuß wurde als Todesursache präferiert.
Fraenckel wich zwar im zweiten Gutachten leicht von Strassmanns
These ab und gab an, auch der zweite Kolbenschlag und nicht erst
der Schuß könnten Frau Luxemburg getötet haben.
Doch daß sie die Leiche Luxemburgs vor sich hatten, und
daß ein Schuß den Schädel zertrümmert hatte,
bezweifelte keiner der beiden Herren.
Auf einem der Fotos ist deutlich der Kopfschuß zu erkennen.
Paul Levi, Rechtsanwalt und zeitweiliger Lebensgefährte Rosa
Luxemburgs, identifizierte anhand der Fotos die Leiche – es
darf vermutet werden, hauptsächlich den Körper– als
die/den von Rosa Luxemburg. Dies ist der Stand der Forschung nach
der Auswertung der hier erstmalig vorgestellten Dokumente.
Andere Leiche
Professor Michael Tsokos, (seit dem Jahr 2006 – d. Red.)
Leiter der Rechtsmedizin der Charité in Berlin, vermutet, in
einer Wachs-Museumsleiche, einem Torso ohne Füße,
Hände und Kopf, die in seinem Institut lagerte, die Leiche
Rosa Luxemburgs gefunden zu haben. Dazu behauptet er, die am 31.
Mai 1919 vom Schleusenwärter Knepel gefundene Leiche, welche
dann auf Noskes Befehl nach Zossen geschafft worden sei, sei nicht
die Leiche von Rosa Luxemburg.
Tsokos führt zur Stützung seiner These folgende Argumente
an:
1. Nirgendwo stünde, daß die Zossener Leiche Rosa
Luxemburg sei.
2. Bei dieser Leiche seien keine Hinweise gefunden worden, die die
typischen Körpermerkmale Luxemburgs (Lahmheit,
»watschelnder Gang«) belegen.
3. Es sei kein Kopfschuß bzw. keine Austrittswunde
festgestellt worden. Die Verletzungen am Schädel der Leiche
deuteten auf eine Selbstmörderin hin. Die
Schußverletzung (Ein- und Austrittsloch) würde bei
Strassmann/Fraenckel widersprüchlich dargestellt.
4. Das Protokoll sei ungewöhnlich kurz.
5. Wasserleichen hätten meist nach wenigen Monaten keine
Kleidung mehr an. Die angebliche »Luxemburg-Leiche« sei
aber bekleidet gewesen.
6. Die wirkliche Luxemburg-Leiche sei mit Draht umwickelt worden.
Es wären keine Spuren der Handfesseln gefunden worden, die als
sicher gelten würden.
7. Man habe der »falschen«, in Zossen obduzierten,
nackten Leiche das Medaillon umgehängt. Luxemburg sei im
Eden-Hotel ausgeraubt worden, daher habe man das
Schmuckstück.
8. Strassmann und Fraenckel seien mit der Pistole bedroht worden
und hätten daher im Gutachten Spuren gelegt, daß es sich
nicht um die Leiche Luxemburgs handele.
9. Die Leiche sei nicht nach Zossen gebracht, sondern in der
Charité obduziert worden.
Die Leiche, die 1919 begraben worden sei (gemeint ist die in Zossen
obduzierte), sei niemals die von Rosa Luxemburg. Er habe kein
Ausschlußindiz gefunden und sofort das Obduktionsprotokoll
vom Bundesarchiv geholt.
Korrekte Gutachten
Dagegen ist geltend zu machen:
1. Im Zweitgutachten, das im Erstgutachten angekündigt ist
(und zwar nach der mikroskopischen Untersuchung), ist ständig
von der Leiche Rosa Luxemburgs die Rede. Im Erstgutachten wird von
Fraenckel vermutet, daß es Luxemburg sei, mehr auch
nicht. Von der Leiche als der von Rosa Luxemburg zu sprechen, war
ja auch nicht möglich, denn am 3. Juni, als die Leiche
obduziert wurde, war sie noch nicht identifiziert. Dies geschah am
4. Juni durch Jacob und Marcusson.
2. Zwar stellten Strassmann/Fraenckel keine Beinverkürzung
oder eine Lahmheit fest, sprachen aber von einer
»mäßige (n) alte (n)
Wirbelsäulenverkrümmung« und einer nach
»außen ausgeschweift (en)« linken
Hüfte.
Professor Volkmar Schneider, Vorgänger von Professor Tsokos,
stellt in seinem Gutachten (vom 8. Juni 2009) zu den
Obduktionsprotokollen von Strassmann und Fraenckel fest:
»Daß ihr Gang auffällig gewesen sein soll,
läßt sich durch die anatomischen Befunde
(Wirbelsäulenverkrümmung) auch erklären. Dazu bedarf
es nicht unbedingt einer Beinverkürzung bzw. krankhafter
Veränderungen.«
Maxim Zetkin, der am 5. Juni 1919 die Leiche in Zossen zu Gesicht
bekam, sagt aus, daß Rosa Luxemburg hauptsächlich nur
dann hinkte »wenn sie müde war.«
Kazimierz Luksemburg, der noch lebende Neffe von Rosa Luxemburg,
ein bekannter Epidemologe aus Litauen mit internationalem Ruf,
vermutet, daß Rosa Luxemburg unter einer falsch behandelten
Kinderlähmung litt, wie er Annelies Laschitza mitteilte. Dazu
bedarf es keiner Beinverkürzung.
3. Strassmann und Fraenckel hätten in ihren Gutachten keinen
Kopfschuß festgestellt. Dies ist unzutreffend. Es wurde eine
Eintrittswunde von sieben Millimeter, ein Schuß und eine
»durch den Schuß bewirkte schwere Zertrümmerung
der Schädelgrundfläche« festgestellt, die
»aller Wahrscheinlichkeit« nach den Tod bewirkt habe.
Selbstverständlich gingen die Forensiker davon aus, daß
die Kugel auch »am rechten Unterkiefer ausgetreten« sei
(siehe oben). Auch ein Schußkanal wurde konstatiert.
4. Das Zweitgutachten ist nicht ungewöhnlich kurz und wird von
Michael Tsokos ungenau zitiert: Aus einem Kolbenschlag sei ein
Schuß geworden. Der Schuß war aber schon im
Erstgutachten festgestellt worden. Auch das Erstgutachten weist
korrekt die Öffnung von Kopf-, Brust- und Bauchhöhle nach
(...).
Falsche Behauptungen
5. Wasserleichen, wenn sie nicht in reißenden
Gebirgsbächen liegen, haben, nach Auskunft von Schneider,
meist die Kleidung an, in der sie gestorben sind. Die Behauptung
von Tsokos, die Leiche sei völlig nackt gewesen, ist nicht
belegbar.. Zumindest Teile der Kleidung fanden sich: Das Medaillon,
das Samtband um den Hals, Fetzen des blauen Samtkleides, die
schwarzen Strümpfe und sogar die rotbraunen Handschuhe . Die
Angaben der Polizei, die Aussage des Leichendieners, die des
Legationssekretärs und die des Schleusenwärters Knepel
bestätigen, daß die Leiche zumindest teilweise bekleidet
war.
6. Die Leiche Rosa Luxemburgs sei mit Draht umwickelt und mit
Gewichten beschwert im Landwehrkanal versenkt worden. Daher
hätten sich Hände und Füße später
abgelöst. Keiner der Zeugen, nicht die, die die Leiche in den
Kanal warfen, noch die, die dies von der Lichtensteinbrücke
aus beobachten, noch die, die die Leiche fanden, berichten irgend
etwas von einer Drahtumwicklung. Dies kann auch gar nicht sein, da
nach den Originalquellen die Leiche Luxemburgs in aller Eile
»über das Gesträuch« in den Kanal geworfen
wurde. Die Wachen auf der Lichtensteinbrücke sagten sogar aus,
daß die Leiche nach dem Hineinwurf unter der Brücke
durchgetrieben sei. Einer der Männer, Leutnant Röpke,
machte dem kommandierenden Hauptmann Weller, mit der Hand am
Stahlhelm, die Meldung: »Soeben ist die Leiche der Frau
Luxemburg in den Kanal geworfen worden, wenn Herr Hauptmann sie
sehen wollen, da schwimmt sie.« Auch die einfachen Soldaten
Poppe und Weber, die die Leiche auf Befehl Kurt Vogels in den Kanal
warfen, sagten aus, es habe keine Beschwerung durch Steine gegeben.
Der Mann, der das Gerücht von der Drahtumwicklung verbreitete,
ein Stadtverordneter namens Wilk, gab auf Befragen an, er habe dies
aus der Zeitung. Egon Erwin Kisch verbreitete dieses Gerücht
leider weiter, und so hat es sich bis heute gehalten. Auch die
Vermutung eines Herrn Blumenthal vom Vollzugsrat, die Leiche sei
mit Steinen beschwert worden, ist nach diesen Aussagen nicht
glaubhaft.
Auch Handfesseln gab es keine. Wenn es aber keine Drahtumwicklung
gab, ist es auch völlig unerklärlich, daß der von
Tsokos als Luxemburg-Leiche reklamierte Torso im Landwehrkanal
beide Füße und Hände, plus Kopf verloren haben
soll.
7. Die Vermutung von Michael Tsokos, das Medaillon sei der Toten
(der seiner Ansicht nach falschen Leiche) umgehängt worden, um
sie als Rosa Luxemburg auszugeben, wäre nur dann stichhaltig,
wenn man Frau Luxemburg im Eden-Hotel ausgeraubt hätte. Das
war aber nicht der Fall.
Ihr war erst, nachdem man sie aus dem Eden-Hotel herausgeführt
hatte und Runge den ersten Kolbenschlag an der Hoteldrehtür
auf sie geführt hatte, in aller Eile die Handtasche und ein
Schuh gestohlen worden. Doch vom Diebstahl des Medaillons ist
nirgends die Rede. Auch ihres Samtbandes, ihres Rockes, ihrer
Strümpfe und ihrer Handschuhe hat man sie nicht beraubt,
sondern sie sofort blutend auf den Rücksitz des
bereitstehenden offenen Pkw geworfen, wie Hotelangestellte
übereinstimmend aussagten.
Michael Tsokos These widerspricht auch der eidlichen Aussage des
Leichendieners Eberhardt. Sie ist außerdem in Unkenntnis der
Aussage der Freundin Rosa Luxemburgs, Wanda Marcusson, getroffen
worden, die angab, daß Rosa Luxemburg bei ihrer Verhaftung in
ihrer Wohnung das fragliche dunkelblaue Samtkleid getragen habe.
Mathilde Jacob gab außerdem an, daß die Samtreste,
obwohl sie »vom Wasser ausgezogen« seien, erkennbar
wären. Jemand, der fälschen wollte, hätte die
Samtreste also auch noch wochenlang vorher ins Wasser legen oder
präparieren müssen. Daß die Leiche Handschuhe
getragen hatte, bezeugte der litauische Legationssekretär.
Handschuhe, nach Polizeiangaben braunlederne Glacehandschuhe, die
von Mathilde Jacob als die von Rosa Luxemburg wiedererkannt wurden.
Nicht belegbar
8. Die Behauptung, die beiden Ärzte seien mit der Pistole
bedroht worden, ist nicht belegbar. Einziger Grund ist die
unbewiesene Annahme von Tsokos, sie hätten deswegen
»Spuren« im Bericht gelegt. Die Spur soll ihre
Feststellung gewesen sein, daß sie keine unterschiedlich
langen Beine und keine Ursache für einen watschelnden Gang
hätten feststellen können. Sehr wohl stellen sie
allerdings Verformungen der Wirbelsäule und der Hüfte
fest. Dies paßt zu der Bemerkung des Arztes und Freundes
Maxim Zetkin, daß Rosa Luxemburg meist nur hinkte, wenn sie
müde war. Also ganz so schlimm kann die Behinderung nicht
gewesen sein.
9. Die Leiche wurde nicht in der Charité obduziert, sondern
in Zossen, das belegen die Quellen eindeutig.
Schlußfolgerungen
Die Aussage, die Leiche, die Knepel gefunden habe, sei nicht die
von Rosa Luxemburg, kann nicht belegt werden. Die identifizierten
Kleidungstücke Rosa Luxemburgs sind ein Ausschlußindiz,
daß es sich bei der Leiche aus der Charité um die von
Rosa Luxemburg handelt. Ein Ausschlußindiz, das
offensichtlich nicht recherchiert wurde, ebenso wie der Hinweis von
Strassmann und Fraenckel, daß die Haut der Leiche mit blauem
Kleiderfarbstoff gefärbt war. Auch die Zeugenaussage des
Leichendieners, die Tsokos vorlag, der das Medaillon und die
Kleiderreste abgeschnitten hatte, wird nicht zur Kenntnis
genommen.
Dann habe er sich »als nächstes« »das
Obduktionsprotokoll aus dem Militärarchiv in Freiburg schicken
lassen.« (Vorwärts, 7. Juli 2009) Tsokos hat sich die
Kopien der Protokolle als erstes belegbar vom Autor schicken lassen
und sich dafür per E-Mail bedankt. Dies sei hier kommentarlos
konstatiert.
Allgemein: Die Körpergröße der Leiche entsprach der
von Rosa Luxemburg (1,46 Meter). Bislang wurde von den mit dem Fall
befaßten Medizinern nicht angezweifelt, daß es sich um
Rosa Luxemburg handelte. Auch Paul Levi identifizierte die Tote
anhand der Fotos.
Es stellt sich auch die Frage, warum der Kriegsgerichtsrat Ehrhardt
dringlich darum bat, mit Rosa Luxemburg befreundete
Rechtsanwälte und unabhängige Mediziner der Obduktion
beizuziehen, wenn er dann dort betrügen wollte. Es stellt sich
auch die Frage, woher man so schnell eine Leiche hatte, die
weiblich, so groß wie Frau Luxemburg war und auch noch
über einen Kopfschuß an der Stelle verfügte, an der
mehrere Zeugen (laut Prozeßprotokoll der Hauptverhandlung vom
Mai 1919) gesehen hatten, daß der Täter abgedrückt
hatte.
Eine Verschwörung bezüglich des Mordes an den beiden
Sozialistenführern hatte es tatsächlich gegeben. Aber im
Falle der Leichen war dies absolut unnötig und auch bei
Liebknecht nicht geschehen. Es gab kein Motiv, eine falsche Leiche
zu präsentieren. Im Gegenteil, durch den Leichenfund Rosa
Luxemburgs wurde in mehreren Rechtsgutachten des Justizministeriums
und der noch bestehenden oberen Militäranwaltschaft eine
Wiederaufnahme des Verfahrens gegen den des Mordes an Luxemburg
verdächtigen Oberleutnant a. D. Kurt Vogel gefordert, gerade
weil Strassmann und Fraenckel einen Kopfschuß und nicht die
Kolbenschläge als Todesursache angaben. (...)
Bislang konnte Michael Tsokos noch keine DNA präsentieren, die
mit der der Leiche übereinstimmt. Alle DNA-Vergleiche mit
Luxemburgs Herbarium in Warschau und Verwandten von ihr waren
bislang negativ.
Es bleibt festzustellen, die Leiche die am 31. Mai 1919 gefunden,
am 3. Juni 1919 obduziert und am 13.6. 1919 begraben wurde, war
nach heutigem Erkenntnisstand, die Leiche Rosa Luxemburgs.
(...)
Von Klaus Gietinger erschienen u. a.: Eine Leiche im
Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs (2009); Der
Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche
Karriere (2009). Den vorliegenden Text entnahmen wir dem von
Annelies Laschitza und Klaus Gietinger herausgegebenem Band: Rosa
Luxemburgs Tod. Dokumente und Kommentare. Rosa-Luxemburg-Stiftung
Sachsen, Leipzig 2010, 204 Seiten, 11,50 Euro. ISBN
978-3-89819-333-7. Der Band ist soeben erschienen. Bestellungen
über: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V., Harkortstr. 10,
04107 Leipzig, Tel.: 0341/9608531, Fax: 0341/2125877, E-Mail:
RosaLuxemburg-Stiftung.Sachsen@t-online.de">RosaLuxemburg-Stiftung.Sachsen@t-online.de
Der Text wurde redaktionell gekürzt. Wir danken dem Autor und
der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen für die freundliche
Genehmigung zum Abdruck.