Spätestens seit den »Brotrevolten« von 2007 und
2008, mit denen die Menschen in rund 40 Ländern auf die
Explosion der Lebensmittelpreise reagierten, ist die
Ernährungskrise ein bleibendes Thema in den Medien und in der
offiziellen Politik. Dabei ist die Krise eher ein gigantischer
Skandal, denn den alljährlich neun Millionen Hungertoten und
mehr als einer Milliarde chronisch Hungernder steht eine
Nahrungsmittelmenge gegenüber, die genügen würde, um
alle Menschen ausreichend zu versorgen. Folglich mangelt es in
erster Linie an einem »globalen« politischen Willen,
ein Mangel, der zum Beispiel in der Tolerierung und vielfach sogar
Förderung der Flächenkonkurrenz zwischen Agrotreibstoff-
und Nahrungsmittelproduktion zum Ausdruck kommt.
Doch das Thema Welternährung steht nicht nur aufgrund von
Preisexplosionen und Hungerprotesten auf der Tagesordnung.
Unterschiedliche Modellrechnungen prognostizieren bei einer
globalen Zunahme der Durchschnittstemperatur von etwa drei Grad
Celsius regionale Ernteeinbußen zwischen 20 und 50 Prozent,
je nachdem, ob man die Ernteausfälle infolge von
Überflutungen und Dürreperioden mit einrechnet oder den
extrapolierten Verlust auf die Folgen von
»Hitzestreß« begrenzt1. Dabei befindet sich eine
angenommene Erwärmung um drei Grad nach Einschätzung des
Weltklimarates IPCC eher am unteren Ende der Skala des Erwarteten.
Bislang spricht mehr dafür als dagegen, daß Mike Davis
Recht behalten wird, der im Juni 2008 feststellte: »Wie das
UNDP in seinem letztjährigen Bericht betonte, ist die globale
Erwärmung vor allem eine Bedrohung für die Armen und die
zukünftigen Generationen – beides Größen mit
geringem oder gar keinem politischen Gewicht. Ein koordiniertes
globales Handeln zu ihren Gunsten setzt einen revolutionären
Zugang zur Macht voraus (ein Szenario, das der IPCC nicht vorsieht)
oder die historisch beispiellose Verwandlung des Eigeninteresses
der reichen Länder und Klassen in eine aufgeklärte
›Solidarität‹.«2
Darüber, daß die Sicherung einer ausreichenden
Ernährung für alle eine der größten
Herausforderungen unserer Zeit ist und daß hier massiver
Handlungsbedarf besteht, besteht inzwischen allgemeiner Konsens.
Das kommt in den Erklärungen der letzten G-8-Gipfel und in der
Bildung einer speziellen Arbeitsgruppe beim Generalsekretär
der Vereinten Nationen ebenso zum Ausdruck wie in Erklärungen
kritischer Wissenschaftler, Basisinitiativen und
Nichtregierungsorganisationen. Die zwei prinzipiellen
Lösungswege, die zur Debatte stehen, um der sich abzeichnenden
Zuspitzung der Situation zu begegnen, divergieren jedoch so stark,
daß man sie als antagonistisch bezeichnen könnte.
Eingedenk der herrschenden Kräfteverhältnisse entspricht
es einer David-gegen-Goliath-Konstellation.
Der von den Mächtigen bevorzugte Ansatz beinhaltet die
beschleunigte Ausweitung hochproduktiver Systeme, wobei die
Worthülse »Nachhaltigkeit« in den Beschreibungen
dieses von Welternährungsorganisation, Weltbank und anderen
Institutionen unterstützten Konzepts nicht fehlen darf. In der
Praxis sind mit »hochproduktiven Systemen«
Hochleistungssorten gemeint, deren Ertragspotential nur unter
Einsatz von Intensivbewässerung, Pestiziden und chemischer
Düngung ausgeschöpft werden kann. Die Befürworter
dieses Weges verweisen auf die Erträge in Modellversuchen. So
erreichten die Maiserträge von Beispielbetrieben in
Äthiopien, Malawi, Mali, Moçambique, Nigeria und Uganda
das Drei- bis Fünffache des jeweiligen Landesdurchschnitts3.
Solche Vergleiche suggerieren, daß diese Art zu produzieren
der einzige Weg zu höheren Erträgen ist.
Ressourcenplünderung
Abgesehen von der Frage, ob hohe Ertragssteigerungen auch auf
andere Weise erzielt werden können, läßt der
Rückblick auf die »Grüne Revolution« der
1960er und 1970er Jahre begründete Zweifel an der
Nachhaltigkeit dieses Ansatzes zu. Wer den in diesem Jahr
publizierten 600-Seiten-Bericht des Weltagrarrats (IAASTD), eines
Gremiums von rund 400 Wissenschaftlern, aufmerksam liest,
stößt an vielen Stellen auf Hinweise, die das belegen4.
Die Grüne Revolution war laut IAASTD-Bericht die
technologische Antwort auf gescheiterte, oftmals aber auch
gewaltsam unterdrückte Agrarreformen. Trotz Anerkennung der
massiven Ertragssteigerungen, die durch die Grüne Revolution
für eine beschränkte Zahl wichtiger Kulturen erreicht
wurden, besteht ihre Langzeitwirkung in Umweltzerstörung,
wachsender Abhängigkeit von Importen und dem Anwachsen der
Slums in den Megastädten des Südens. 80 Prozent der 324
wissenschaftlichen Publikationen, die diesbezüglich
ausgewertet wurden, beschrieben eine Verstärkung der sozialen
Ungleichheit durch die Grüne Revolution. Die fehlende
Nachhaltigkeit eines solchen Ansatzes zeigt sich aktuell darin,
daß einerseits der Wassermangel in vielen Regionen
dramatische Ausmaße annimmt und andererseits weltweit 70
Prozent des Süßwassers durch die industrielle
Landwirtschaft verbraucht werden5 – und in dem Umstand,
daß dieser Wirtschaftszweig mehr Treibhausgase produziert als
der gesamte globale Straßenverkehr. Abnehmende
Bodenfruchtbarkeit und Artenvielfalt sind weitere Langzeitfolgen
dieser Produktionsmethode.
Doch die Verfechter dieses Modells fordern unverdrossen ein
»Weiter so«. Darüber hinaus nutzen die Lobbyisten
der Gentechnik die plötzliche Publizität des Themas
Welternährung, um bei jeder sich bietenden Gelegenheit
genmanipulierte Pflanzen als ultimative Lösung des Problems
feilzubieten. Stellvertretend sei Douglas Kell, der Leiter des
britischen Forschungsrats für Biotechnologie und Biologische
Wissenschaften (BBSRC), zitiert, der in einem BBC-Interview am
27.April 2009 eine »maßgebliche Entwicklung der
Agrarwissenschaften« einforderte, um weiteren Hungerrevolten
vorzubeugen. Da der BBSRC die Gentechnik als eine von drei
Säulen der Ertragssteigerung betrachtet6, kann man sich
ausrechnen, was Kell meint. Noch werden laut IAASTD auf 93 Prozent
der globalen Ackerfläche konventionelle Sorten angebaut.
Folglich läßt sich da viel »entwickeln«. So
hat die britische Regierung beschlossen, die Versorgung »der
Armen in der Welt« mit genmanipuliertem Saatgut mit 100
Millionen Pfund unterstützen zu wollen, wie der Guardian am
19. Juli berichtete – wobei ein großer Teil dieser
Gelder an Forschungsinstitute geht, die etwa dürreresistenten
Mais entwickeln, sowie an den Agrarkonzern Syngenta7. Daß
sowohl im IAASTD-Bericht4 als auch in der jüngsten Publikation
der »Union of Concerned Scientists«8 den
Gentechnik-Sorten bescheinigt wird, im Vergleich zu konventionellen
Sorten keine besseren Erträge zu bringen, scheint da wenig zu
stören.
Effiziente Alternativen
Auch die Verfechter alternativer Strategien fordern eine
stärkere Unterstützung der landwirtschaftlichen
Entwicklung in den Ländern des Südens, die in den letzten
zehn bis 20 Jahren stark vernachlässigt wurde (siehe dazu auch
Seite 7) – und die Förderung einer darauf ausgerichteten
Agrarforschung. Das von ihnen verfolgte Konzept dürfte in dem
von der internationalen Kleinbauernorganisation »Via
Campensina« geprägten Begriff
»Ernährungssouveränität« am
prägnantesten zusammengefaßt sein. Kernstück ist
die Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die
auf nachhaltige Weise vor allem Nahrung für die lokale
Bevölkerung produzieren soll. Hierbei geht es nicht um die
Revitalisierung überlebter Traditionen, sondern um
Überlebensstrategien in einer rauhen neoliberalen
Wirklichkeit. Wichtige Komponenten des Konzepts der
Ernährungssouveränität sind Landreformen, die
Stärkung der Rechte der Bauern und Landarbeiter, die Ablehnung
des Einsatzes von Gentechnik, soziale Gerechtigkeit und der Schutz
vor Billigimporten. Selbstversorgung sowie lokaler und regionaler
Handel sollen Vorrang vor einer Exportorientierung haben. Mehrere
Länder, darunter Nepal, der Senegal und Venezuela, haben das
Ziel der Ernährungssouveränität inzwischen in ihren
Verfassungen verankert.
Es gibt sowohl akademische als auch praktische Beweise für die
Tragfähigkeit dieses Konzepts. Eine 2007 publizierte
Meta-Analyse von über 300 wissenschaftlichen Arbeiten zur
Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Anbausysteme
dokumentierte, daß man problemlos die eine oder andere Arbeit
herauspicken könnte, um entweder die konventionellen oder
biologischen (einschließlich quasi-biologischen)
Anbaumethoden als überlegen darzustellen9. Bei einer
Gesamtbetrachtung aller Arbeiten zeichnet sich jedoch de facto kein
Unterschied im Ertragspotential des einen oder des anderen
Verfahrens ab – wohl aber in bezug auf die Nachhaltigkeit.
Die Autoren räumen ein, die tatsächlich erzielten
Erträge des (quasi-)biologischen Anbaus in den Ländern
des Südens vermutlich unterschätzt zu haben, weil die
Vergleiche nur in bezug auf eine Fruchtart angestellt wurden. Der
Output an Kalorien je Flächeneinheit ist jedoch aufgrund der
anzutreffenden »Multicropping«-Systeme (Felder mit
mehreren gleichzeitig angebauten Früchten) oftmals höher.
Eine Forschergruppe um Peter Rosset, Direktor der
US-Entwicklungshilfeorganisation »Food First«
führte darüber hinaus einen Produktivitätsvergleich
zwischen kleinen und großen Landwirtschaftsbetrieben in 15
Ländern des Südens durch. Wenngleich für eine
einzelne Frucht die Hektarerträge in den Großbetrieben
oftmals höher waren, war die Gesamtproduktivität pro
Flächeneinheit bei den kleineren Betrieben um den Faktor zwei
bis zehn größer10. Als Gründe für diesen
Unterschied nennt Rosset das erwähnte Multicropping, eine
höhere Arbeitsintensität pro Flächeneinheit und eine
effektivere Bewässerung.
Von der Not zur Tugend
Zu den Erfolgsbeispielen der praktischen Anwendung des Konzepts der
Ernährungssouveränität zählen das unfreiwillige
»Großexperiment« Kuba und die Erfolge der
brasilianischen Landlosenbewegung MST.
Nach dem Kollaps des sozialistischen Lagers brach für Kuba
nicht nur der Absatzmarkt über Nacht weg, sondern auch die
bislang von dort importierten Produktionsmittel wie
Kunstdünger, Schädlingsbekämpfungsmittel, Maschinen
und Ersatzteile fehlten plötzlich. Im Ergebnis schrumpfte die
landwirtschaftliche Pro-Kopf-Produktion von 1986 bis 1995 um
jährlich fünf Prozent. Die erzwungene Neuorientierung
machte Kuba zum ersten Land, das begann, biologischen Landbau in
nationalem Maßstab zu betreiben – mit dem Erfolg,
daß, nachdem diese Umstellung ihre Wirkung entfaltete, von
1996 bis 2005 die Pro-Kopf-Produktion wieder um jährlich 4,2
Prozent wuchs. In diesem Fall wirkte sich das US-Embargo
ausnahmsweise begünstigend aus: Kuba war vor importierter
Billigware weitgehend geschützt. Ein weiterer wichtiger Faktor
ist das in Kuba gut etablierte Campesino-a-Campesino-System der
Weitervermittlung von Erfahrungen11. Nahezu die Hälfte der
unabhängigen Kleinbauern Kubas in rund 100000
Familienbetrieben erzeugen mit ihren agroökologischen Methoden
pro Hektar mehr Nahrung als die industrialisierten
Großbetriebe. Von den 25 Prozent der bebaubaren Fläche,
die auf diese Weise genutzt wird, kommen 65 Prozent der nationalen
Nahrungsmittelproduktion. Dabei soll nicht verschwiegen werden,
daß die Zerstörungen der drei Hurricans, die Kuba 2008
getroffen haben, ihren Tribut gefordert haben: Momentan importiert
Kuba nach inoffiziellen Angaben 55 Prozent seines
Nahrungsmittelbedarfs – ein dramatisches Beispiel für
die Auswirkungen des Klimawandels. Dessen ungeachtet haben die
Kubaner sich vorgenommen, die Fläche ökologischen Anbaus
auf 1,5 Millionen Hektar auszudehnen, was, effizient genutzt,
genügen würde, um die
Ernährungssouveränität des Landes
herzustellen.
Im Zuge der vom brasilianischen MST praktizierten
»umverteilenden« Landreform waren 2002 acht Millionen
Hektar Land besetzt und von etwa einer Million Menschen in Besitz
genommen worden. Die sozioökonomischen Kennziffern dieses
rebellischen landwirtschaftlichen Experiments sind beeindruckend.
Die Nutznießer der Landreform haben im Durchschnitt ein
Einkommen, das dem 3,7fachen des nationalen Mindestlohns
entspricht, während Landlose nur 70 Prozent des Mindestlohns
erhalten11. Die Kindersterblichkeit ist in dieser
Bevölkerungsgruppe nur noch halb so hoch wie im nationalen
Durchschnitt. Mit dieser Strategie werden nicht nur die vor Ort
benötigten Nahrungsmittel produziert, sondern auch
Arbeitsplätze geschaffen, deren Einrichtung in der Industrie
nach Schätzungen zwei- bis 20mal teurer ist.
1 Battisti & Naylor (2009): Science 323, S. 240-244; und Daten
von der Arbeitsgruppe 2 des IPCC
2 Davis, M. (2008): Willkommen im Anthropozän;
www.vsp-vernetzt.de/soz-0812/081220.php
3 FAO: The State of Food Insecurity in the World 2008. FAO,
2008
4 IAASTD: Global Report, siehe
www.agassessment.org/
5 IAASTD: Synthesis Report, siehe
www.agassessment.org/
6
www.bbsrc.ac.uk/science/topical/food/workshop_crops.pdf
7
www.guardian.co.uk/environment/2009/jul/19/gm-crops-aid-uk-funding
8
www.ucsusa.org/assets/documents/food_and_agriculture/failure-to-yield.pdf
9 Badgley u.a. (2007): Renewable Agriculture and Food Systems 22,
S. 86–108
10
www.foodfirst.org/pubs/policybs/pb4.pdf
11 Rosset, P. (2009): Monthly Review 61, Nr. 3, S. 114–128