Allein die beiden jüngsten US- und NATO-Kriege in Afghanistan
und im Irak haben weit über eine Million zivile Todesopfer
gefordert. Hinzu kommen Millionen zu körperlichen oder
seelischen Krüppeln geschossene Menschen und Millionen
Flüchtlinge. Und alles im Namen von Demokratie und
Menschenrechten, für die freie Marktwirtschaft und den
»American style«.
Und genug ist niemals genug. Unaufhörlich drängen die
US-geführte NATO und die EU danach, ihren Einfluß immer
weiter auszudehnen, nach Afrika, in den sogenannten
Größeren Mittleren Osten und insbesondere in die
zentralasiatischen ehemaligen Sowjetrepubliken. Denn dort
warten große Reichtümer an Öl und Gas und andere
Rohstoffe nur darauf, zur Ausbeutung durch westliche Konzerne
befreit zu werden.
Dafür aber müssen erstens die Zugänge durch den
Kaukasus und durch Afghanistan gesichert, zweitens die lokalen
Regierungen durch Zuckerbrot oder Peitsche gefügig gemacht und
drittens muß Rußland geschwächt und marginalisiert
werden.
Genau diese drei Ziele verfolgen NATO und EU in dieser Region,
nicht zuletzt mit solch harmlos klingenden Programmen wie
»NATO-Partnerschaft für den Frieden« oder dem im
Mai letzten Jahres von der EU aufgelegten »Eastern
Partnership« (Östliche Partnerschaft). Dabei ziehen die
EU, die NATO und die USA am gleichen Strang, und zwar nicht erst
seit kurzem.
NATO-Generalsekretärs Jaap de Hoop Scheffer konstatierte
bereits vor vier Jahren: »Die NATO und die EU machen ziemlich
gute Fortschritte bei der Koordinierung der modernen
militärischen Fähigkeiten. Ich bin optimistisch,
daß wir unsere Kooperation auf weitere Gebiete ausdehnen
können, wo wir gemeinsame Sicherheitsinteressen haben und wo
wir uns gegenseitig ergänzen und verstärken können.
Und hier meine ich Gebiete wie … den Kaukasus und
Zentralasien« (NATO International, 31. März
2005).
Der Staatssekretär im US-Außenministerium Nicholas
Burns, der zuvor US-Botschafter beim Militärpakt gewesen war,
begrüßte den Appell des NATO-Generalsekretärs und
unterstrich seinerseits, »daß das NATO-Bündnis und
die EU ihre Kooperation verstärken müssen, um jenseits
der NATO-Grenzen in Europa, Afrika und Zentralasien für
Sicherheit zu sorgen.« (AP, 26. Mai 2005)
In diesem Reigen durfte natürlich auch ein deutscher
Verteidigungsminister nicht fehlen. Peter Struck (SPD) unterstrich
damals: »Es wäre vollkommen falsch, die Fortschritte der
europäischen Verteidigungsfähigkeiten getrennt von den
Fortschritten innerhalb der NATO zu sehen«. Denn beide, NATO
und EU zusammen, müßten vor dem Hintergrund eines sich
schnell wandelnden Sicherheitsumfeldes besser für
Einsätze außerhalb der NATO-Grenzen vorbereitet sein.
(Deutsche Welle, 13. April 2005)
Sinn und Zweck dieser Einsätze rund um die Welt werden in den
verschiedenen Weißbüchern der NATO-Armeen, so auch in
dem der Bundeswehr, und ebenso im geltenden Neuen Strategischen
Konzept des Pakts aus dem Jahr 1999 hinreichend beschrieben. Zwar
werden die imperialen Ambitionen wie üblich mit dem Gerede um
Menschenrechte und Frieden, Freiheit und Demokratie vernebelt,
unterm Strich jedoch geht es stets um die Sicherung des Zugangs zu
Rohstoffen und Märkten, und /oder um die Beherrschung
geostrategisch wichtiger Positionen. Schon in den
»Verteidigungspolitischen Richtlinien« des
Bundesverteidigungsministerium vom 26. November 1992 wurde es u.a.
zur Aufgabe der Bundeswehr gemacht, für deutsche Konzerne
»den ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in
aller Welt« und die »Aufrechterhaltung des freien
Welthandels« zu sichern.
In der Tat haben EU/NATO/USA inzwischen einen großen Teil der
Welt bereits unter sich aufgeteilt, mit Ausnahme der westlichen
Hemisphäre, welche die USA nach wie vor für sich allein
beanspruchen. In diesem Zusammenhang sei auch die jüngst
erfolgte Wiederindienststellung der Vierten US-Flotte verweisen.
Andere Regionen, ja ganze Kontinente sind bereits filetiert. Am
deutlichsten wird das in Afrika. Hier haben sich die
»Missionen« der EU vervielfacht, insbesondere in der
rohstoffreichen Region des Kongo aber auch am strategisch
wichtigen Horn von Afrika.
Unverfroren hatte der NATO-Interventionsexperte Jamie Shea in einer
öffentlichen Sitzung des »Unterausschusses für
Sicherheit und Verteidigung« des Europäischen Parlaments
(EP) in Brüssel im Dezember 2006 das Konzept zur besseren
Arbeitsteilung zwischen EU und NATO präsentiert, die sowohl
regional als auch funktional sein müßte. Funktional
sollte die EU sich mehr um die nicht-militärischen Aspekte der
gemeinsamen Sicherheitsinteressen kümmern, während die
militärische Hardware, also die großen Kriege zu
führen, Aufgabe der NATO sei. Regional sollte das ehemalige
koloniale Afrika in den Zuständigkeitsbereich der EU fallen
und der »Größere Mittlere Osten« in den der
NATO, meinte Shea, der für seine Verdienste zur verlogenen
Rechtfertigung des Angriffskrieges gegen Jugoslawien (»Wie
verkauft man einen Krieg«) vom Sprecher zum Direktor für
Politikplanung des Militärpakts befördert worden ist.
Vorwärts ins 19. Jahrhundert
Die imperiale Neuaufteilung der Welt zeigt, daß seit dem
Untergang des realexistierenden Sozialismus 1991 eine
konservative Restauration stattgefunden hat, die direkt ins 19.
Jahrhundert, ins Zeitalter der Expansion des Kolonialismus
zurückführt. Die drückt sich auch im Verhalten der
euro-atlantischen NATO-Eliten aus. In ihrem Umgang mit anderen
Ländern erkennt man den gleichen kolonialen Hochmut wie im 19.
Jahrhundert, die gleichen herrischen Ansprüche, die gleiche
Arroganz, mit der verbriefte Rechte der anderen in den Dreck
getreten werden und die gleiche Kanonenbootpolitik, mit der
»widerspenstige Eingeborene« zusammengeschossen
werden.
Faktisch, wenn auch nicht formal haben die Mächte des Westens
im Rahmen von EU und NATO eine Parallele zum Wiener Kongreß
1815 und zum Kongreß von Berlin im Jahr 1878 geschaffen. Zur
Erinnerung: Der Wiener Kongreß fand nach dem Ende der
Napoleonischen Kriege statt. Er legte die Grundlage für die
sogenannte Heilige Allianz, also für die Restauration der
Monarchie und des Feudalismus in Europa. Mit dem Spuk der
gefährlichen republikanischen Gedanken der französischen
Revolution sollte ein für allemal Schluß sein. Kurz, die
Neue Weltordnung der »Heiligen Allianz« sollte
sicherstellen, daß niemals wieder in Europa ein
gekröntes Haupt von einer republikanischen Bewegung bedroht
würde.
In der Neuzeit erlebt seit 1991 das damalige Verbot aller Formen
republikanischen Denkens und Regierungsformen eine Renaissance. Man
muß heute nur »republikanisch« mit
»sozialistisch« oder »kommunistisch«
ersetzen. In der Tat herrscht heute wieder eine neue »Heilige
Allianz«, die versucht, alle politischen Parteien und
Bewegungen, die die Rechte der großen Mehrheit der Menschen
verteidigen, zu verteufeln, zu marginalisieren, ja sogar zu
kriminalisieren. In einem systematisch von oben geführten
Klassenkampf soll jeder Widerspruch, sogar jeder Gedanke an eine
gesellschaftliche Alternative zur vorherrschenden neoliberalen
»Wahrheit« unterdrückt werden.
Als zweites haben sich die euro-atlantischen Eliten des
Großkapitals mit der Zusammenarbeit von EU und NATO ein
Pendant zum Berliner Kongreß von 1878 geschaffen. Er
läutete damals die kooperative Phase unter den damaligen
europäischen Großmächten zur Aufteilung der Welt
ein. Die begann mit der Ziehung neuer Grenzen und
Einflußzonen auf dem Balkan, ohne daß die Vertreter der
betroffenen Länder dazu gefragt worden wären. Wenige
Jahre später wurde auf einer neuerlichen Konferenz in Berlin
(15. November 1884 bis 26. Februar 1885) die Aufteilung Afrikas
unter den europäischen Kolonialmächten vorgenommen.
Beteiligt waren Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich,
Großbritannien, Frankreich, Belgien, die Niederlande,
Dänemark, Schweden-Norwegen, Italien, Portugal und
Spanien.
Ähnlichkeiten zwischen damals und heute sind unverkennbar.
Damals wie heute wurde der von Macht- und Profitgier motivierte
Wettlauf der europäischen Großmächte um die
afrikanischen Rohstoffe vor der Öffentlichkeit mit
humanitären Phrasen gerechtfertigt. Den armen Wilden auf dem
»dunklen Kontinent« mußten der Erlöser Jesus
Christus und die anderen Werte der europäischen Zivilisation
gebracht werden. Ja, die Kolonisierung wurde sogar als schwere,
opferreiche und selbstlose Aufgabe der Kolonialmächte
hingestellt: als die »Bürde des weißen
Mannes«.
Auch hier sind die Parallelen zur Gegenwart nicht zu
übersehen. Man muß nur die operativen Schlagwörter
ersetzen: »Menschenrechte« statt
»Zivilisation«, »Bürde des weißen
Mannes« heißt heute »globale Verantwortung
übernehmen«, usw. Die Ziele sind die alten geblieben:
Zugang zu Rohstoffen und Märkten und strategische Positionen
zu erobern.
Um zu demonstrieren, wie sehr die Vergangenheit bereits wieder
Gegenwart geworden ist, sei hier aus einem Artikel in The Times vom
12. Juni letzten Jahres zitiert. Geschrieben wurde er vom
ehemaligen britischen Verteidigungsminister und späteren
NATO-Generalsekretär (1999–2004) Lord George Robertson
und dem ehemaligen Hohen Kommissar der EU für
Bosnien-Herzegowina, Lord Paddy Ashdown, der jüngst als
Koordinator für die EU und NATO in Afghanistan im
Gespräch war. »Die Anstrengungen zur Schaffung
europäischer Schlachtgruppen müssen vermehrt und voll
kompatibel mit den NATO-Reaktionskräften gemacht werden, um so
eine Basis für eine europäische Fähigkeit zur
Aufstandsbekämpfung zu schaffen, die imstande ist, in
zerfallenden Staaten (failed states) und ähnlichen Umfeldern
zu operieren.«
Dieses an die westlichen Eliten gerichtete Manifest zur gemeinsamen
Rebellenbekämpfung in den Kolonien der neuen, neoliberalen
Weltordnung fährt mit der Bemerkung fort: »Diese
[militärischen Fähigkeiten zur Aufstandsbekämpfung]
sind unerläßlich, wenn wir gerufen werden, um in
irgendwelchen unregierbaren Räumen, welche durch die
Globalisierung geschaffen wurden, die staatliche Autorität
wiederherzustellen.«
Der NATO-Gipfel 2009
Auf dem NATO-Gipfel in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden am 3. und
4.April feiert das westliche Establishment nicht nur den 60.
Gründungtag der Organisation, die mit brutalen Interventionen
und völkerrechtswidrigen Kriegen die wirtschaftliche und
politische Macht der herrschenden Eliten absichern soll. Es geht
auch um die Erneuerung der NATO-Strategie zur Festigung ihres
Selbstverständnisses als globale Ordnungsmacht. Allerdings ist
bei den Vorbereitungen nicht alles nach Plan gelaufen. Mit der
Ausarbeitung der neuen Strategie, die in Strasbourg/Baden-Baden
hätte abgesegnet werden sollen, ist noch nicht begonnen
worden. Statt dessen gab es Streit über Sinn und Zweck der
NATO. Manche Mitglieder befürchten, daß eine erneute
Strategiediskussion das Bündnis sprengen könnte. Zu
unterschiedlich sind in manchen Bereichen die Vorstellungen. Nicht
einmal über das Forum, in dem die neue Strategiedebatte
stattfinden soll, war man sich eine Woche vor dem Gipfel
einig.
Ginge es jedoch nach den strammen Atlantikern, dann würde die
NATO für den globalen Einsatz noch schlagkräftiger und
noch gefährlicher gemacht. Blaupausen dafür haben im
Vorfeld der Strategiedebatte bereits vor einem Jahr fünf
NATO-Schwergewichte, darunter der ehemalige Generalinspekteur der
Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Klaus
Naumann, präsentiert. In dem Papier »Towards a new Grand
Strategy« wird der Kurs der NATO weiter auf globale Kriege
gerichtet. Globale Militärinterventionen sollen
selbstverständlich auch ohne UN-Mandat durchgeführt
werden können, um NATO-Interessen zu verteidigen.
Ferner soll das bisherige Konsensprinzip im NATO-Rat abgeschafft
werden, so daß jederzeit eine »Koalition der
Willigen« unter Rückgriff auf NATO-Kapazitäten
Krieg führen kann. Dieses Papier enthält neben der
Rechtfertigung von Präventivkriegen auch den Ersteinsatz von
taktischen Atomwaffen zu deren Unterstützung, z.B. wenn die
NATO-Atomwaffenstaaten andere Staaten davon abhalten wollen,
Atomwaffen herzustellen.
Zunehmend Widersprüche
Die von NATO/EU/USA vertretene neoliberale Weltordnung ist jedoch
heute weniger fest etabliert als noch vor einem Jahr, denn im
Inneren dieser Allianz zeigen sich zunehmend starke
Widersprüche: unterschiedliche Einstellungen zu Rußland
sorgen für Ärger, insbesondere wegen der Versuche
Washingtons, die Länder des »neuen Europa«
für seine Zwecke zu instrumentalisieren und gegen das
»alte Europa« auszuspielen. Dieses strebt eine
»strategische Partnerschaft« mit Rußland an, was
von US-gestützten EU-Neulingen wie Polen, Tschechien und
Ungarn blockiert wird.
Zugleich sind die »widerspenstigen Eingeborenen« in
Afghanistan für Krisenstimmung in der NATO verantwortlich. Am
Hindukusch, auf dem Friedhof der Imperien, stehen laut Aussagen
führender US-Strategen nicht nur die
»Glaubwürdigkeit« und »die Zukunft der NATO
auf dem Spiel«, sondern auch der Führungsanspruch der
Amerikaner über Europa.
Hinzu kommt die derzeitige schwere Krise des Kapitalismus, welche
die ideologischen Fundamente der herrschenden neoliberalen Eliten
zutiefst erschüttert. Die weitreichenden Folgen lassen sich
nur erahnen. »Hier ist eine Weltanschauung
kaputtgegangen«, sagte der deutsche Außenminister und
Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier am 16. März dieses
Jahres. Und laut US-Geheimdienst CIA stellt nicht mehr der
»globale Terror« die größte Gefahr für
die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika dar, sondern die
Wirtschaftskrise.
Nicht zuletzt gibt es immer mehr Menschen, insbesondere junge, die
die Machenschaften der neuen »Heiligen Allianz«
durchschauen und sich der Aufgabe der NATO, die neoliberale
Globalisierung militärisch abzusichern, widersetzen.
Rainer Rupp ist Diplom-Volkswirt und Publizist. Ab 1977
arbeitete er in der politischen Abteilung des
NATO-Wirtschaftsdirektorats in Brüssel – als
Kundschafter der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung). Unter dem
Decknamen »Topas« lieferte er zwölf Jahre lang
wichtige Informationen aus dem Inneren des westlichen
Militärpakts an den Auslandsgeheimdienst der DDR. Für
seine dem Frieden dienende Arbeit wurde Rupp 1994 vom
Oberlandesgericht Düsseldorf zu zwölf Jahren
Gefängnis verurteilt. Der Artikel in dieser Beilage basiert
auf seinem Vortrag auf der Konferenz »Nein zur NATO
– Nein zum Krieg« des Europäischen Friedensforums
(epf) am 14./15. März 2009 in Berlin.
Zu den Illustrationen: Im Vorfeld des NATO-Gipfels in Strasbourg
hat sich die jW-Gestaltung intensiv Gedanken über ein Plakat
zur Unterstützung der Proteste gemacht. Einige der zahlreichen
Entwürfe sind in dieser Beilage zu sehen. Die Grafik für
obiges Plakat stammt von Thomas J. Richter.