Am 29. Januar hat Barack Obama, der neugewählte
Präsident der USA, sein erstes Gesetz unterzeichnet: den
»Lilly Ledbetter Fair Pay Act«. Es regelt die gleiche
Bezahlung unabhängig von Geschlecht, Rasse, Religion, Alter
und trägt den Namen einer Frau, die für gleichen Lohn bis
zum Obersten Gericht der USA gegangen war – und verloren
hatte. In 19 Arbeitsjahren hatte sie bei gleicher Arbeit
gegenüber ihren männlichen Kollegen etwa 155000 Euro
weniger erhalten, die Rentenverluste noch nicht eingerechnet.
Daß ein neues Gesetz jetzt Frauen wie ihr zu ihrem Recht
verhelfen kann, stärkt die Hoffnung, daß wir alle etwas
tun und gewinnen können, daß sich also etwas bewegen
läßt. Auch, wenn wir wissen, daß es nicht
genügt, den Grundsatz »gleicher Lohn für gleiche
Arbeit« gesetzlich festzuschreiben, um der Ungerechtigkeit
bei den Löhnen wirklich ein Ende zu setzen. Denn es gibt
Tricks: Zum Beispiel Kriterien, mit denen der Lohn bei ungleicher
Arbeit so festgelegt ist, daß die geringere Bezahlung immer
die Frauen trifft.
Als Friedrich Engels vor 170 Jahren durch England reiste und seinen
Bericht über die arbeitende Klasse schrieb, kam er nach
Auswertung einer Vielzahl von Statistiken zu dem Ergebnis, 1839
seien in den englischen Fabriken mindestens zwei Drittel der
Arbeitenden Frauen gewesen. Er nannte dies eine
»Verdrängung männlicher Arbeiter«, eine
»Umkehrung der sozialen Ordnung«, die zur
Auflösung der Familie und Verwahrlosung der Kinder führe.
Dabei dachte er zunächst nicht darüber nach, wieso er
eigentlich die Arbeiterschaft als natürlich männlich
annahm (MEW 2, 367f, 465). Er schreibt: »In vielen
Fällen wird die Familie durch das Arbeiten der Frau nicht ganz
aufgelöst, sondern auf den Kopf gestellt. Die Frau
ernährt die Familie, der Mann sitzt zu Hause, verwahrt die
Kinder, kehrt die Stuben und kocht. Dieser Fall kommt sehr, sehr
häufig vor. Man kann sich denken, welche gerechte
Entrüstung diese tatsächliche Kastration bei den
Arbeitern hervorruft.« (MEW 2, 369) Wenig später
entdeckt er, daß bei gesellschaftlicher Teilung von
außerhäuslicher und häuslicher Arbeit
unabhängig vom jeweiligen Geschlecht der häusliche Akteur
vom außerhäuslichen beherrscht wird. Damit erfaßt
er eine Grundlage herrschaftlicher Geschlechterverhältnisse.
Doch Engels gibt die Empörung über die Lage der
Fabrikarbeiterinnen wesentlich mit Kategorien der Moral
(Sittenverderb) wieder. Dies erschwert es, den Zusammenhang als
Effekt kapitalistisch ausgebeuteter spezifischer
Geschlechterverhältnisse zu sehen. Er fährt fort:
»Und doch ist dieser Zustand, der den Mann entmannt und dem
Weibe seine Weiblichkeit nimmt, ohne imstande zu sein, dem Manne
wirkliche Weiblichkeit und dem Weibe wirkliche Männlichkeit zu
geben, dieser, beide Geschlechter und in ihnen die Menschheit aufs
schändlichste entwürdigende Zustand die letzte Folge
unserer hochgelobten Zivilisation.« (MEW 2, 371)
Die sorgfältige Lektüre der Klassiker ist immer
überraschend. Man sieht sie in die verrücktesten Fallen
tappen – wie hier Engels – und kann sogleich an der
eigenen Empörung erkennen, wo man selbst nicht weit genug
gedacht hat, wie man also dem metaphysischen Mann-Weib-Denken
entkommen kann, ohne das in der Kritik am stubenkehrenden Mann und
seiner Kastration liegende Befreiungspotential auch für uns zu
verspielen. Folgen wir Engels also mit Humor, denn auch er erkennt
schließlich, »daß die Geschlechter von Anfang an
falsch gegeneinandergestellt worden sind. Ist die Herrschaft der
Frau über den Mann, wie sie durch das Fabriksystem notwendig
hervorgerufen wird, unmenschlich, so muß auch die
ursprüngliche Herrschaft des Mannes über die Frau
unmenschlich sein.« (MEW 2, 371).
Versuchen wir also, der Hartnäckigkeit, mit der sich
Frauenbenachteiligung in der Erwerbsarbeit über Jahrhunderte
hält, auf die Spur zu kommen, indem wir uns dem so
aufdringlichen Befund der Arbeitsteilung im Großen der
Gesellschaft zuwenden. Betrachten wir die eigentümliche
Positionierung, die der Produktionssektor im umfassenden Sinn
gegenüber dem der Reproduktion hat. Obwohl es im letzteren um
das Wesentliche menschlichen Lebens, Geburt und Aufzucht, Sorge
für Behinderte und Kranke, ja auch um die Wiederherstellung
der Natur geht, erscheint er unter kapitalistischen
Verhältnissen als unwichtig, als Störfaktor oder als
hoffentlich abnahmebereiter Konsumbereich. Über ihm bläht
sich der Produktionssektor auf, in dem die Lebensmittel hergestellt
und organisiert werden. Er wird bestimmend, weil in ihm Profite
gemacht werden, die Ziele kapitalistischen Wirtschaftens sind.
Zugleich ist kein Leben ohne Lebensmittel, insofern bilden die
beiden Bereiche einen »Trennungszusammenhang«. Keiner
kann ohne den anderen. Die Grenzen um die Bereiche sind scharf
gezogen. »Wo man arbeitet, ist man nicht zuhause, und wo man
zuhause ist, arbeitet man nicht«, konnte Marx bei der Analyse
der entfremdeten Arbeit sagen und beschrieb so den Widerspruch
zwischen Kräfteverausgabung in der Lohnarbeit und Zielfindung
im häuslichen Glück. Der Satz regte Feministinnen auf,
weil sie natürlich wußten, daß zu Hause sehr wohl
gearbeitet wird, wenn auch nicht so sehr von Männern. Die
Kritikerinnen sahen damals nicht, daß der Satz vornehmlich
dem Trennungszusammenhang galt: Arbeit sollte so sein, daß
man in ihr sich zu Hause fühlen könnte und das Zuhause
so, daß sinnvolle Arbeit stattfände – das
hätte beides geändert, die Arbeit und das Heim und vor
allem die Gewohnheit, sie einander entgegenzusetzen.
Das Leben als Kunstwerk
Eine wesentliche Ursache der anhaltenden Frauenbenachteiligung ist
also die Über- bzw. Unterordnung der Bereiche von Produktion
und Reproduktion: Geschlechterverhältnisse sind
Produktionsverhältnisse (vgl. F. Haug, Stichwort
Geschlechterverhältnisse im HKWM 5, 2001, S. 493-531). Die
umfassende These ist: Zwei einander überlagernde
Herrschaftsarten bestimmen den Fortgang der Geschichte: die
Verfügung einiger über die Arbeitskraft vieler in der
Lebensmittelproduktion und die Verfügung der (meisten)
Männer über weibliche Arbeitskraft,
Gebärfähigkeit und den sexuellen Körper der Frauen
in der »Familie«. Das widersprüchliche Ineinander
bewirkt, daß die Entwicklung des Gemeinwesens zugleich mit
der Zerstörung seiner Grundlagen voranschreitet, gestützt
und getragen durch Geschlechterverhältnisse. Vereinfacht:
Solange eine Gesellschaft die Frage ihrer Reproduktion nicht
gesellschaftlich geregelt hat, wird die Frauenbenachteiligung
fortbestehen. Sie ist vielfältig moralisch abgesichert.
Unser Blick hat sich von der Fixierung auf Erwerbsarbeit
gelöst, indem auch Reproduktionsarbeit als Arbeit diskutiert
wurde. Im Ineinander der Arbeitsarten treten weitere
Tätigkeiten in den Blick. Da ist die Arbeit an sich selbst,
alle schlummernden Fähigkeiten zu entfalten. Es geht auch
darum, das eigene Leben als Kunstwerk zu begreifen und sich nicht
einfach in den Konsumbereich abschieben zu lassen, als wäre
»Konsument« eine mögliche
Individualitätsform. Die Entfaltung eigener
schöpferischer Möglichkeiten ist ein Ziel, das in der
Diskussion um Frauenbenachteiligung in Arbeit und Lohn nicht
vorkommt. Und doch weiß ein jeder, daß es in den
Geschichtsbüchern wimmelt von den Taten und Künsten
»großer Männer«, nicht von denen der Frauen.
Und weiß auch auf den zweiten Blick, daß die
Überforderung, die durch das leicht gesprochene
»Vereinbarkeit von Beruf und Familie« entsteht, dazu
führt, daß an so etwas wie kreative künstlerische
Betätigung nicht einmal mehr zu denken ist, ganz zu schweigen
vom lebenslangen Lernen.
Daß diese drei Bereiche getrennt wahrgenommen und ihre
Grenzen geschützt werden, dafür sorgt umfassend die
Trennung der Politik vom übrigen gesellschaftlichen Leben.
Daß die Gestaltung der Gesellschaft heute ein Geschäft
für Spezialisten ist, in das sich die »kleinen
Menschen« nicht einmischen sollten, fällt
spätestens in der Weltwirtschaftskrise als ungeheuerliche
Trennung und praktisch als Katastrophe in das Leben der einzelnen.
Die Trennung der Ökonomie von der Politik dient also als
Begründung dafür, daß die Mehrheit der Menschen
eigentlich »unbefugt« in einer Gesellschaft lebt, deren
Ungerechtigkeiten sie deshalb passiv ertragen muß.
Grenzen einreißen
Daß dies nicht so bleibt, dafür ist nachhaltige
Umordnung angesagt. Im Projekt »Die
Vier-in-einem-Perspektive« habe ich ausgearbeitet, daß
Politik heute heißen muß, die vier
Tätigkeitsbereiche zusammenzufügen, die Grenzen zwischen
ihnen einzureißen, die entsprechenden Haltungen zu
ändern. Das Modell ist ein Eingriff ins alltägliche
Zeitregime, in die Vorstellung von Gerechtigkeit, ins Konzept der
Menschenwürde, die sich auf erfülltes Leben bezieht und
aufhört, eine bloß moralische Kategorie zu sein, und in
die Vorstellung von Demokratie, die nicht auf der Basis von
bloßer Stellvertreterpolitik denkbar ist, sondern als
Beteiligung aller am politischen Leben der Gesellschaft.
Das Konzept ist eine Aneignung und Fortentwicklung von Luxemburgs
revolutionärer Realpolitik. Es verbindet eine Perspektive
– das integrierte Leben in allen vier Bereichen – mit
alltäglicher Realpolitik. Insofern erhöht es die
politische Handlungsfähigkeit in den Tageskämpfen um
Reformen und verändert sie durch Ausrichtung auf die
umfassende Perspektive. Die radikale Verkürzung der
Erwerbsarbeitszeit für alle auf ein Viertel der aktiv zu
nutzenden Zeit wird zur Leitlinie. Perspektivisch erledigen sich
auf diese Weise Probleme von Arbeitslosigkeit mitsamt Prekariat und
Leiharbeit. So gesprochen gehen alle einer Teilzeitarbeit nach,
bzw. der Begriff hat aufgehört, etwas sinnvoll zu bezeichnen,
und wir können uns auf die Qualität der Arbeit
konzentrieren, auf ihre Angemessenheit an die menschliche
Verausgabung von Fähigkeiten.
Für die Familienarbeit bedeutet dies zuallererst eine
Verallgemeinerung. So wie niemand von der Erwerbsarbeit
ausgeschlossen sein soll, so können und sollen auch alle
Menschen in der Reproduktionsarbeit ihre sozialen Fähigkeiten
entwickeln. Die Verknüpfung der Bereiche müßte
notwendige Grundlage einer emanzipatorischen Politik werden. In der
Vier-in-einem-Perspektive nehmen die Frauen eine
Schlüsselposition ein. Denn sie sind es, die den
Reproduktionsbereich so wichtig nehmen, daß sie ihn bei der
Planung ihrer Aktivitäten immer berücksichtigen. Sie sind
es auch, die den Erwerbsarbeitsbereich nicht für das alleinige
Zentrum halten. Es ist dringlich, daß sie mit der
Selbstaufopferung aufhören und die Entfaltung ihrer
Fähigkeiten in ihre eigenen Hände nehmen. Sie müssen
sich in die Politik einmischen, weil sie für die Gestaltung
ihres und anderer Leben »den Staat von unten nach oben
umkehren« müssen, wie Bertolt Brecht es
ausdrückte.
Keiner der Bereiche sollte ohne die anderen verfolgt werden. Daraus
würde eine Politik und zugleich eine neue Lebensgestaltung
folgen – umfassend, sinnvoll, eingreifend und lustvoll
genießend, so daß endlich die Entwicklung jedes
einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden
kann.
Von vielen Männern ignoriert
Insbesondere in der Partei Die Linke wird das Konzept seit mehr als
einem Jahr an vielen Orten diskutiert. Es wird von vielen mit
Erleichterung aufgenommen, weil man sich Fragen anders stellen
kann, mit Begeisterung, weil es endlich eine Perspektive gibt,
für die zu streiten lohnt. Es ist ganz offenbar ein Modell, an
das aus unterschiedlichen Traditionen kommende linke Frauen
gemeinsam anknüpfen können. Aber es stößt auch
auf Skepsis.
Es gibt vor allem bei vielen männlichen Vertretern der
Linkspartei zunächst einfache Ignoranz. Die
Vier-in-einem-Perspektive gehört für sie offenbar auf den
Spielplatz, wo Frauen und Kinder mit unwesentlichen Dingen ihre
Zeit vertreiben. Das Projekt stößt auch auf Abwehr, weil
es sich zunächst mechanisch als
Vier-mal-vier-Stunden-Aufteilung des Lebens darstellt, obwohl man
bei näherer Prüfung leicht sehen kann, daß alle
Bereiche schon im praktischen Leben ineinander verschränkt
sind und die Einhaltung der Grenzen selbst eine künstliche Tat
ist. (Daß wir dieses Befreiungsprojekt global denken und
angehen müssen, ist selbstverständlich. Eine
Zusammenfassung der Diskussion darüber, wie das geschehen
könnte, wird derzeit zur Veröffentlichung vorbereitet.)
Und es gibt viele, die sich den Kopf der jetzigen Regierung
zerbrechen und die selbst jetzt, während sie deren Umgang mit
der Finanzkrise täglich erleben können, fragen: Wer soll
das bezahlen, wenn alle nur mehr vier Stunden in der Erwerbsarbeit
zubringen? Hier ist wie an anderen strittigen Punkten
Diskussionskultur nötig: Wir müssen dabei mit Ideologien
und falschen Fragen produktiv umgehen, die Reduzierung allgemeiner
Gesellschaftsprobleme auf »Frauenfragen« wiederum als
Produkt von Herrschaft erkennen und sehen, daß wir Grenzen
überschreiten müssen, um ein menschenwürdiges Leben
für alle zu gewinnen.
* Frigga Haug war bis 2001 Professorin für Soziologie an
der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Sie
ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Das Argument und Redakteurin
sowie seit 2006 Mitherausgeberin des Historisch-kritischen
Wörterbuchs des Marxismus. Aktuelles politisches Engagement im
Wissenschaftlichen Beirat von des globalisierungskritischen
Netzwerks ATTAC und in der Partei Die Linke.
Literatur:
Marx-Engels-Werke (MEW), Band 2, Dietz, Berlin, div. Auflagen,
darin: Friedrich Engels, Zur Lage der arbeitenden Klasse in
England
Wolfgang-Fritz Haug, Frigga Haug, Peter Jehle (Hrsg.):
Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus (HKWM) Band 5,
Argument Verlag, Hamburg 2001, 125 Euro – Informationen zum
HKWM:
www.inkrit.de/hkwm/hkwm-index.htm
Frigga Haug: Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen
für eine neue Linke. Argument Verlag, Hamburg 2008, 348 S.,
19,50 Euro
Die Diskussion des »Vier-in-Einem-Projekts« innerhalb
der Partei Die Linke kann im Internet verfolgt werden:
www.vier-in-einem.de