06.06.2007 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Auf der Alm

Gruezi mitenand: Rechtzeitig zum G-8-Gipfel erscheint bei Suhrkamp ein Reader für die Antiglobalistas

Jürgen Elsässer

Zwei Schweizer Bergbauern sitzen auf der Alm und blicken auf den Vierwaldstätter See. Hinten muht die Kuh. Unten waut ein Sennerhund. Es tut sich: nichts. Nach einer halben Stunde sagt der eine Schrat: »Weihnachten ischt schöön!« Nach einer weiteren halben Stunde brummelt der andere: »Orgasmus ischt auch schöön!« Es vergeht eine weitere Stunde, bis der erste zusammenfaßt: »Weihnachten ischt öfters!«

So dröge geht es auch im Interview mit der PDS-Nachwuchspolitikerin Katja Kipping zu. Der Fragensteller will wissen, wie sich die Frau im Parteibetrieb durchgesetzt hat. »Braucht man eine gewisse Dickköpfigkeit?« Antwort Kipping: »Ich würde eher sagen: Beharrlichkeit. Das ist auf jeden Fall sehr hilfreich.« Geht's noch lahmarschiger?

Die Alpen-Cowboys tauschen wenigstens ein paar Infos aus. Bei der Genossin dagegen plätschert nicht der Gebirgsbach, sondern der seichte Redefluß. Ähnlich fetzig sind auch ein Gutteil der übrigen Beiträge im Suhrkamp-Sammelband »Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda«. Staubtrockene Akademiker und Studienabbrecher vom Straßenprotest pflegen denselben Slang, rumpeln mit dem Anmerkungsapparat, gendern, was das Zeug hält, zitieren sich gegenseitig und sind hip, daß es knallt. Selbst einem ansonsten genialen Schreiber wie dem Parteienforscher Franz Walter verkümmert unter diesem genius loci der Stil, und zwei erfrischende Beiträge zu neuen Formen gewerkschaftlicher Gegenwehr wirken in der abgestandenen Bracke so exotisch wie Flamingos in der Spree.

Bin ich intellektuellenfeindlich? Ja!! Immer wieder muß ich Mao Tse Tung meinen Respekt zollen, der Geistesarbeiter und Bürokraten alle halbe Jahre zur körperlichen und ideologischen Ertüchtigung aufs Land schickte. Auch in Westdeutschland ging es den Leuten relativ gut, solange ein gestandener Betonfacharbeiter wie Holger Börner hessischer Ministerpräsident werden konnte. Ins Rutschen kam die Gesellschaft, als der Dicke gezwungen wurde, einen gewissen Joseph Fischer mitsamt seiner Gang in die Regierung aufzunehmen. Der hatte nach kurzer Hospitation bei Opel Rüsselsheim seinen Abschied vom Proletariat genommen und sich in der Folge, wie ein Biograph schrieb, einzig von »strategisch geplantem Bücherklau« ernährt. Für diese Existenzform – bißchen jobben, bißchen stehlen, ansonsten in Cafés rumlungern – haben kreative Imperialistenknechte wie Toni Negri den Begriff »immaterielle Arbeit« erfunden. Weil man bei diesen kleinkriminellen Aktivitäten heutzutage nicht mehr Zigaretten dreht, sondern am Laptop herumspielt, werden die Schnorrer mittlerweile sogar vornehm als »digitale Boheme« bezeichnet.

Michael Hardt, der Kompagnon von Negri, sieht die immateriellen Arbeiter als »revolutionäres Subjekt«: »Sie wissen, wie man soziale Beziehungen produziert, wie man Wissensnetzwerke erstellt. Sie haben einen viel direkteren Zugriff auf das Politische als die materiellen Arbeiter, die sich nur die ökonomischen Produkte aneignen können.« Man beachte das Wörtchen »nur«... Auf die Frage, welche Bewegungen seiner Meinung heute überhaupt noch zeitgemäß sind, antwortet er: »In Nordamerika und Europa sind dies Gruppen, die sich mit den Problemen der Immigration sowie mit prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigen (...). Das sind einfach die brennendsten Probleme. In den USA hatten diese Projekte in den letzten Jahren einen etwas schweren Stand, da – zumindest in der medialen Öffentlichkeit – das gesamte Feld des Protestes eingenommen war durch die Kriegsgegner.« Mit anderen Worten: Nur Flüchtlingsarbeit und garantiertes Grundeinkommen für die digitale Boheme sind lohnenswerte Aktivitäten – Gewerkschafts- und Friedensarbeit lenken ab. Wer sich die Schwerpunkte der radikalen Linken in diesen Wochen ansieht, kann ermessen, wie sehr Negri/Hardt Trendsetter geworden sind.

Kaum besser ist Chantal Mouffe, eine belgische Marxologin mit Faible für Nebenwidersprüche. In Anlehnung an Antonio Gramsci sucht sie nach Konzepten, wie die Linke hegemoniefähig werden kann, und ist dabei auf »Äquivalenzketten« gestoßen. »Wenn z.B. die Arbeiter ihre Forderungen aufstellten, dann sollten sie auch den Anliegen der Schwarzen, der Migranten, der Feministinnen Rechnung tragen.« Welche unsäglichen Aufrufe man nach diesem Rezept zusammenköcheln kann, demonstrieren die Autonomen seit Jahr und Tag: Ellenlange Spiegelstrichkataloge, aus jedem Dorf ein Hund, und natürlich will kein normaler Malocher das Zeug lesen. Hegemoniefähig wird die Linke nicht durch die bloße Addition von Minderheitenforderungen, sondern indem sie die Anliegen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung artikuliert. Im Oktober 1917 in Rußland war das z.B. die Trias »Land, Frieden und Brot«.

Um das zu begreifen, darf man allerdings nicht »Und jetzt?« lesen, sondern muß zu »Was tun?« greifen, Wladimir Iljitschs erstem Bestseller. Lenin hätte nichts von einer »Bewegung der Bewegungen« gehalten, in der sich echte Revolutionäre mit allerhand Scharlatanen abgeben müssen. »Erst Klarheit, dann Einheit«, war seine Parole. Man kann es auch in Anlehnung an Karl Marx sagen: Die Arbeiter haben nichts zu verlieren außer ihre Äquivalenzketten.

Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda. edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2007, 364 Seiten, 12 Euro.

Podiumsdiskussion zum G-8-Gipfel mit Chantal Mouffe, Ulrich Beck, Katja Kipping, Jan Huwald und Sven Giegold, moderiert von Sabine Brandi, am 7.Juni um 20 Uhr im Sternfoyer der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/263452