26.08.2006 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Revolutionäre Theorie in Kriegszeiten

jW dokumentiert die Referate der Konferenz über »zukunftsfähigen Marxismus« am 24./25. Juni in Berlin

Arnold Schölzel

Auf Einladung des Abgeordneten in der Bezirksverordnetenversammlung Berlin- Schöneberg/Tempelhof, Gert Julius, organisierte die Marx-Engels-Stiftung Wuppertal in Zusammenarbeit mit junge Welt Ende Juni eine Konferenz über das Thema »Konturen eines zukunftsfähigen Marxismus«. Die Tagung fand im Rathaus Schöneberg statt, buchstäblich unter der 1950 installierten »Freiheitsglocke«, einem Replikat des Symbols der US-Unabhängigkeit. Gert Julius erklärte in seinen einleitenden Worten: »Jedes Mal, wenn mittags um zwölf Uhr diese sogenannte Freiheitsglocke schlägt, denke ich an die Heuchelei amerikanischer Politik. Eine Politik, in der die Überfälle auf viele Völker der Erde, der Mord an unzähligen schuldlosen Menschen als Heldentaten gefeiert und Kriege als Verteidigung der Menschenrechte geführt und vorbereitet werden.« Er zählte Kuba, Chile, Jugoslawien, Afghanistan und den Irak auf und wies darauf hin: »Imperialismus – im Sinne von unmittelbarer Gewaltanwendung, um seinen Willen als Großmacht kleineren Staaten aufzuzwingen – hat Hochkonjunktur.«

Wenige Tage später, am 29. Juni, titelte die junge Welt: »Israel führt wieder Krieg«. Die Weltpresse verharmloste den Einsatz von 5000 Soldaten gegen Gaza als begrenzte Aktion. Allerdings glichen die Bilder aus dem Kampfgebiet von Anfang an jenen, die aus den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen gegen Jugoslawien 1999 und gegen den Irak 2003 bekannt sind – systematische Zerstörung von Brücken, Energiezentralen und Telekommunikation, der gesamten Infrastruktur, keine Rücksicht gegenüber der Zivilbevölkerung.

Die Teilnehmer der Konferenz in Berlin konnten nicht ahnen, in welcher Weise sich dieser Krieg ausweiten würde. Das Thema, das sie behandelten, hatte aber sehr wohl mit der aktuellen Kriegssituation zu tun. Was der Marxismus ist und was er in Zukunft sein kann, entscheidet sich nicht in theoretischen Disputen und nicht in akademischen Abhandlungen. Umgekehrt aber gilt auch: Ein tieferes Verständnis marxistischer Theorie ist eine Voraussetzung, die Gegenwart »in Gedanken zu fassen« und die Tendenzen, die über das Heute progressiv hinausweisen, zu begreifen und zu befördern.

Die Konferenz in Berlin hatte eine große Publikumsresonanz. Offensichtlich trafen Thema und Referate einen Nerv bei vielen, die in ihrem Widerstand motiviert werden und eine gesellschaftliche Alternative begründet haben möchten. Das erscheint in Kriegszeiten nötiger denn je. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, begann Lenin, Hegel zu lesen– zur Analyse des Imperialismus und zur Vorbereitung der Revolution.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/263182