30.04.2004 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Soziale Konterrevolution

Die Pläne des Kapitals, mittels Sozialabbau und Umverteilung nach oben die Profite zu sichern und zu maximieren, zerstören das gesellschaftliche Gefüge

Klaus Fischer

Die Zerschlagung des Sozialstaats ist auch im Mai 2004 voll im Gange. Sinkende Reallöhne, repressive Gesetze gegen Erwerbslose, systematische Unterhöhlung des Solidarprinzips bei Renten- und Krankenversicherung, massiver Druck auf die Arbeitszeiten der noch Beschäftigten, nicht vorhandene Lehrstellen, all das kennzeichnet die Situation in der Bundesrepublik Deutschland und zerstört gewachsene gesellschaftliche Strukturen und das bestehende Wertesystem.

Am deutlichsten wird das durch die weiter zunehmende Erwerbslosigkeit. Trotz statistischer Tricks, verstärkten Drucks auf Betroffene und hektischen Kurierens an Symptomen sind offiziell über viereinhalb Millionen Menschen ohne Erwerbsjob. Schaut man auf die Dunkelziffer – arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger, Zwangsfrührentner, nicht erfaßte Jugendliche, in »Maßnahmen« der Arbeitsämter geparkte Erwerbslose, Menschen in prekären Beschäftigungen zu Billiglohn, dann sind jetzt bereits nahezu zehn Millionen erwerbsfähige Bewohner dieses Landes ohne existenzsichernde Arbeit. Und das im Land mit dem dritthöchsten Bruttoinlandsprodukt der Welt, in dem Land, das mehr exportiert als alle anderen Staaten dieser Erde und in dem die Zahl der Reichen und Superreichen kontinuierlich zunimmt.

Das Gerede der Politiker und Lobbyisten von einem zu erwartenden Wirtschaftsaufschwung hat sich abgenutzt. Auch wenn das BIP plötzlich um zwei bis drei Prozent steigen würde – und darauf deutet trotz intensiver Kaffeesatzleserei der Wirtschaftswissenschaftler nichts hin –, würden neue Arbeitsplätze kaum entstehen. Schreibt man die derzeitige Situation fort, ist offensichtlich: Dieses Land und seine Beherrscher und Verwalter werden auch in Zukunft Millionen von Menschen keine Chance geben, durch Erwerbsarbeit ihr Leben selbst zu bestimmen.

Der sozialen Konterrevolution wird zunehmend Widerstand entgegengesetzt, auch wenn er derzeit weder nachhaltig noch kraftvoll genug ist, Veränderungen herbeizuführen. Die Demonstrationen am 3. April in Berlin, Köln und Stuttgart waren Ausdruck des zunehmenden Unmutes gerade in den Schichten der Bevölkerung, denen es noch einigermaßen gutgeht, die noch Arbeit haben, denen jedoch ebenfalls der soziale Abstieg droht. Aber Unmut reicht nicht, es braucht massenhafte Entschlossenheit, die Situation zu verändern. Der 1. Mai bietet wie kein anderer Tag Anlaß, sich dieser Situation bewußt zu werden. Er ist und bleibt nicht nur schlicht »Tag der Arbeit«, sondern auch deshalb ein besonderer Tag, weil dieses Datum bewußt werden läßt, daß gesellschaftlicher Ausgleich und gerechte Verteilung des Reichtums möglich sind, aber nicht von ungefähr kommen. Das hat mit Tradition, historischen Errungenschaften, aber auch mit aktueller Situation zu tun. Die Entsozialisierung muß gestoppt werden.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/262508