14.04.2004 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Probieren und studieren

»Jahrhundertjahrgang«, Aldiisierung, Rotweinschwemme: Der deutsche Weinmarkt bleibt in Bewegung

Rainer Balcerowiak

Da ist er nun, der »Jahrhundertjahrgang«. Die meisten deutschen Weine der 2003er Ernte dürften bei Erscheinen dieser Weinbeilage bereits abgefüllt sein, zumindest die weißen. Was viele Menschen als Vorboten der nahenden Klimakatastrophe sehen, erscheint der Weinwirtschaft und der sie begleitenden schreibenden Zunft als großartiges Geschenk der Natur. Der ungewöhnlich heiße, lange und trockene Sommer spornte die Reben zu wahren Höchstleistungen in bezug auf die Mostgewichte an. Doch der Beleg für die Berechtigung der bereits vor Erntebeginn gesungenen Lobeshymnen auf den Jahrgang 2003 steht noch aus, und Skepsis ist teilweise durchaus angebracht. Die extrem knappe Niederschlagsmenge hatte in vielen Regionen nicht eben positive Auswirkungen auf das Säuregerüst der Weine. In den meisten Anbaugebieten wurde deshalb künstliche Nachsäuerung zugelassen. Nur wenige Winzer haben damit Erfahrung, und erst in einigen Monaten wird sich zeigen, ob die dergestalt »austarierten« Weine wirklich ein stimmiges geschmackliches Gesamtbild entfalten.

Eines steht jedoch schon jetzt fest: Die meisten 2003er brauchen mit Sicherheit mehr Zeit als andere Jahrgänge, um ihr Potential zu entfalten. Das mußte auch das jW-Weinteam erfahren. Die geplante Vergleichsprobe von 2003er Weinen der weißen Rebsorte Auxerrois haben wir nach den ersten Vorproben auf den Sommer verschoben. Zu wenig rund erschienen uns die meisten der mehr als 20 Weine, die wir nach dem Besuch der Düsseldorfer ProWein-Messe Ende Februar zugeschickt bekamen. Viele von uns befragte Winzer hatten dafür Verständnis. Sie wissen natürlich genau, daß junge Weine oftmals mehrere Wochen an der »Füllkrankheit« leiden. Die zur Haltbarmachung zugefügte schweflige Säure kann sich besonders bei frisch gefüllten Weinen durchaus störend bemerkbar machen, wie auch die durch minimale Nachgärungen entstandene Kohlensäure. Dennoch haben wir dem Auxerrois, dieser seltenen, aber durchaus beachtenswerten Weißweinrebe aus der Burgunderfamilie, die in Deutschland hauptsächlich an der südlichen Weinmosel und in Baden angebaut wird, unser diesmaliges Verkostungsspecial gewidmet. Etliche Winzer vermarkten nämlich ganz bewußt erst jetzt ihre 2002er Weine dieser Rebsorten und die unserer Meinung nach besten werden wir Ihnen vorstellen (S. 13). Außerdem wollen Sie doch sicherlich wissen, welchen Wein Sie unbedingt für die kommende Spargelsaison vormerken sollten. Und der späteren Vergleichsprobe der 2003er Auxerrois-Weine fiebern wir mit großer Vorfreude entgegen.

Doch zurück zum »Jahrhundertjahrgang« als solchem. Selten konnte man unter Winzern eine derartige Euphorie konstatieren. Baron zu Hobe-Gelting, Inhaber des Weingutes Schloß Thorn an der südlichen Weinmosel, erläuterte im Gespräch mit jW seine Idee, wenigstens ein Faß seiner edelsüßen Riesling-Auslesen im Keller mit der Aufschrift »Nicht vor 2103 abzufüllen« zu versehen. Er wünsche sich, »daß auch noch meine Urururenkel einen Eindruck von der ungewöhnlichen Geschmacksfülle dieses Jahrganges bekommen können«, so Hobe-Gelting. Und der Präsident des Verbandes der Deutschen Prädikatsweinwinzer (VDP), Prinz Salm zu Salm, zeigte sich auf einer Pressekonferenz auf der ProWein gar überzeugt, daß es sich beim 2003er »um den besten Jahrgang seit 1540« handelt.

Im edelsüßen Bereich mag das durchaus stimmen. Für die Freunde trockener Weine hat der vergangene Ultrasommer jedoch nicht nur Geschenke parat gehabt. Die hohen Mostgewichte führen zu teilweise erheblich höherem Alkoholgehalt bei durchgegorenen Weinen. Diese können, entsprechende Aroma- und Extraktdichte vorausgesetzt, trotzdem durchaus außergewöhnlich wohlschmeckend sein. Doch als Speisebegleiter leichter sommerlicher Gerichte eignen sich diese Alkoholbomben ebensowenig wie als luftige Zechweine für den Balkon oder die Terrasse. Und der Vermarktungsdruck hat dazu geführt, daß gute 2002er Weißweine, die diese Lücke schließen könnten, bei vielen Winzern überhaupt nicht mehr vorrätig sind.

Doch es gibt auch Lichtblicke. Viele Winzer verzichteten bei ihren »einfachen« Qualitätsweinen in diesem Jahr auf die Zuckeranreicherung vor der Vergärung und können, auch im unteren Preissegment, klare, reintönige, unkomplizierte Weißweine mit jahrgangsbedingter Aromafülle zu äußerst sozialverträglichen Preisen anbieten. Einen dieser Weine, den Elbling-Literwein von Stefan Steinmetz, werden wir Ihnen in dieser Weinbeilage vorstellen.

Zu den deutschen Rotweinen des »Jahrhundertjahrgangs« läßt sich im Moment noch wenig sagen. Zwar sind bereits etliche anspruchsvolle Tropfen, besonders Dornfelder, im Handel, doch mit seriöser Weinproduktion hat das wenig zu tun. Nicht nur der »deutsche Weinpapst« Gerhard Eichelmann beklagt die immer größer werdende Schere zwischen deutschen Klasserotweinen und miesen, grob fehlerhaften Massentropfen. Der Rotweinanteil beim deutschen Weinanbau steigt ebenso kontinuierlich wie auf dem deutschen Weinmarkt. Da sich diese Tendenz angesichts der erst in den kommenden Jahren in den Ertrag kommenden Neubestockungen mit Rotweinreben in allen deutschen Anbaugebieten noch verstärken wird, ist ein böses Erwachen für viele Weinbaubetriebe vorprogrammiert. Der in oft ungeeigneten Lagen angebaute Massenfusel wird besonders im Niedrigpreissegment keine Chance gegen Importweine aus traditionellen Rotweinanbaugebieten haben. Zumal der ungebrochene Vormarsch von Discountern wie Aldi und Lidl auf dem deutsche Endverbrauchermarkt wenig Spielraum für deutsche Weinbaubetriebe läßt.

Ernstzunehmende deutsche Rotweine des Jahrgangs 2003 werden aufgrund der gegenüber Weißweinen komplexeren Ausbauvorgänge frühestens im Sommer dieses Jahres auf den Markt kommen. Die von VDP-Weingütern produzierten »Großen Gewächse« werden sogar erst ab September 2005 im kommenden Jahr angeboten.

Einige bemerkenswerte neue Trends gilt es zu vermerken. Immer mehr Winzergenossenschaften setzen auf Diversifikation ihrer Produktion und bieten Premium-Linien mit streng ertragsreduzierten Weinen aus Toplagen an. Die Spitzenweine dieser Genossenschaften bieten oft ein sensationelles Preis-Leistungs-Verhältnis.

Eher unter Folklore ist dagegen der »Erfolg« des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern einzuordnen. Es wird nunmehr mittels einer Änderung des deutschen Weingesetzes offiziell als »Landweinanbaugebiet« geführt. Viel Spaß beim Genuß von der Kälte »verwöhnter« Tropfen aus dem »Stargarder Land« kann man da nur wünschen. Die Witzweinwinzer aus dem brandenburgischen Werder (»Wachtelberg«) haben bereits vor einigen Jahren sogar den Status eines »Qualitätsweingebietes« erlangt.

Aber das jW-Weinteam interessiert sich weder für Geschmacksverirrungen rund um Neubrandenburg und Potsdam, noch für ungarische, bulgarische, uruguayische oder südafrikanische Weine, die nach einer aufreibenden LKW- oder Containertour in Bingen oder Bernkastel abgefüllt werden. Wir werben ungebrochen von der Globalisierungswelle für charakterstarke Weine, die die Eigenart ihres Terroirs und die Philosophie ihrer Erzeuger widerspiegeln. Derartige Weine gibt es in fast allen Teilen der Welt , und es macht einen Heidenspaß, diese Tropfen zu genießen. Als Neuentdeckung haben wir diesmal Schweizer Weine im Programm (S. 5). Doch auch die Kommunikation mit den Lesern der Weinbeilagen und -kolumnen ist uns wichtig. Unser Aufruf an die Leser, uns Weine zu empfehlen, hatte eine enorme Resonanz, und die Ergebnisse unserer »Gegenproben« finden Sie auf Seite 16.

Da guter Wein und gutes Essen fast untrennbar verbunden sind, werden Sie in dieser Beilage in Form von Buchbesprechungen auch in die »Geheimnisse« zweier Speisegattungen eingeführt, die in Deutschland leider noch immer ein Schattendasein führen: Pasteten und Desserts.

Beim hoffentlich gründlichen Lesen dieser Weinbeilage sollten Sie eines jedoch nicht vergessen: Probieren geht über studieren. Entkorken Sie also – je nach Außentemperatur – einen spritzigen Weißen oder einen samtigen Roten als angemessenen Begleiter für die vor Ihnen liegende erbauliche Lektüre.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/262474