18.06.2003 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Es sind noch Zellen frei

Slobodan Milosevic ist der erste Kriegsgefangene der neuen Weltordnung

Jürgen Elsässer

Ein Verbrecher, wie er im Buche steht: In einem einzigen Jahr ermordeten seine Schergen 1027 Menschen und verschleppten 945 weitere. Im selben Jahr – wohlgemerkt: einem Friedensjahr, ohne militärische Auseinandersetzungen– wurden nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes mindestens 180000 Menschen von seinen Sonderkommandos vertrieben. Den Haag verfügt über eine Akte, nach der seine Killer allein sechs politische Rivalen ausgeschaltet haben. In seiner Hauptstadt verschwanden in einem einzigen Monat 100 junge Frauen und Mädchen – Sexsklavinnen für den Fleischmarkt. Gut, daß einem solchen Kriminellen endlich der Prozeß gemacht wird? Schön wär’s. Bei dem Genannten handelt es sich um Hashim Thaci, den Chef der kosovo-albanischen Guerilla UCK. Die erwähnten Verbrechen verübte er, nachdem eine »robuste Friedenstruppe« der NATO im Juni 1999 mit 40000 Soldaten in den Kosovo eingerückt war. In der Hauptstadt Pristina kontrollieren seine Revolvermänner alles. »Von jedem Schnitzel, das ich hier esse, bekommt Thaci 50 Pfennig«, berichtete ein deutscher UN-Polizist dem Hamburger Abendblatt im März 2000.

Nichts illustriert die Parteilichkeit des sogenannten Kriegsverbrechertribunals in Den Haag besser als die Tatsache, daß dieser Thaci weiterhin in Freiheit lebt und im Kosovo das große Wort führt. Auch andere Räuberhäuptlinge wurden nie belangt, etwa der kroatische Präsident Franjo Tudjman und sein bosnisch-muslimischer Amtskollege Alija Izetbegovic, samt ihrer Heerführer. Von serbischer Seite dagegen sind gleich drei frühere Staatsoberhäupter in Haager Zellen gelandet – die bosnisch-serbische Präsidentin Biljana Plavsic, der serbische Präsident Milan Milutinovic und der jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic. Nach Plavsics Vorgänger Radovan Karadzic und dem Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee Ratko Mladic fahnden seit Jahren schwerbewaffnete Suchkommandos auf dem ganzen Balkan.

Diese Sonderbeilage der jungen Welt will die Leser nicht davon überzeugen, daß zum Beispiel Milosevic unschuldig ist. Das wäre auf acht Seiten gar nicht möglich. Vor allem: Es wäre anmaßend, dies gerade aus deutscher Sicht beurteilen zu wollen. Deutschland, das im letzten Jahrhundert dreimal über Serbien und Jugoslawien hergefallen ist, ist nicht der richtige Ort, um über die Geschundenen auch noch zu Gericht zu sitzen, und sei es auch nur publizistisch. Das ist allein Sache derjenigen, die mit oder unter Milosevic gelebt und in den letzten 13 Jahren Unsägliches erlitten haben. Die Serben, Kroaten und Muslime, die heute bei allen Gegensätzen doch in ihrer Trauer, ihrem Elend und ihrer Entrechtung vereint sind, werden besser feststellen können als wir, wer an diesem Zustand die Schuld trägt: Der Public Enemy No. 1 oder diejenigen, die Jugoslawien von außen zerstört haben. Ein multikulturelles Land, die stärkste Wirtschaftsmacht der Blockfreien-Bewegung, ein attraktives Mischsystem aus Kapitalismus und Sozialismus wurde innerhalb weniger Jahre in ein Schlachtfeld, einen Ethnozoo, eine Wüste neoliberaler Kolonialherrschaft verwandelt. Am Schluß wurden auch die betrogen, die mit den westlichen Siegern gemeinsame Sache gemacht hatten. »Kroatisches Geld in kroatischen Taschen und ein kroatisches Gewehr auf einer kroatischen Schulter« war ein Slogan der Zagreber Sezessionisten Anfang der neunziger Jahre. Heute ist das kroatische Geld in deutschen Taschen, und auf kroatischen Schultern werden amerikanische Gewehre getragen.

Der erste Kriegsverbrecher, der vor einem Tribunal zu erscheinen hätte, ist der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher, sagte der britische Journalist David Binder schon 1992 im ARD-Presseclub. Die Bundesregierung hatte durch die diplomatische Anerkennung und militärische Hochrüstung der Sezessionisten die Krise zum Krieg eskaliert. Aber darüber soll nicht mehr diskutiertwerden. Schuldig ist allein Milosevic, pars pro toto für alle Serben. Und die früher noch Einwände hatten oder wenigstens Fragen stellten, werden in ständig neue Auseinandersetzungen gezwungen und zermürbt: 1999 demonstrierten wir ohnmächtig gegen die Bombardierung Jugoslawiens, 2001 gegen den afghanischen Feldzug, 2003 gegen die Okkupation des Irak. Immer schneller dreht sich das blutige Rad der Geschichte: Seit gestern soll Deutschland am Hindukusch verteidigt werden, heute marschiert die Euro-Armee in den Kongo ein, für morgen kündigen die USA den Präventivkrieg gegen Iran und Nordkorea an. Sollen wir uns jetzt für Rumsfelds Propaganda wappnen, daß in Pjöngjang ein neuer 11. September geplant wird und die Mullahs Bomben im Dresdner Hauptbahnhof legen? Wo immer der friedliche Hase hinhetzt, ist der kriegerische Igel schon da.

»Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft«, ist das Motto von Big Brother in Orwells »1984«. Wir dürfen dem Imperium also nicht die Deutungshoheit über die Vergangenheit überlassen. Die Vergangenheit der Neuen Weltordnung – das ist die Zerstörung Jugoslawiens. So hat alles begonnen. Der Krieg 1999, geführt ohne UNO-Mandat, war die Blaupause für alle kommenden Kriege. Die Kerker von Den Haag, eingerichtet vom UN-Sicherheitsrat entgegen seiner Befugnisse aus dem UN-Statut, ist das Modell für die völkerrechtswidrige Abstrafung aller Kritiker. Dort enden diejenigen, die nicht bereit sind, ihre Volkswirtschaft den großen westlichen Konzernen zu öffnen. Unter Milosevic war Gesetz, daß die Belegschaft eines Unternehmens selbst bestimmen kann, ob es verkauft wird und an wen. Das verstößt gegen das wichtigste Menschenrecht der Neuen Weltordnung, das Menschenrecht auf Ausbeutung. Deswegen sitzt der jugoslawische Präsident in Den Haag.

Zum Optimismus besteht kein Anlaß. Je besser sich Milosevic verteidigt, um so sicherer wird er in der Zelle verfaulen. Wir machen uns keine Illusionen, daß unsere kleine Demonstration ihn dort herausholen wird. Wir wollen eigentlich nur zeigen, daß wir nicht vergessen haben. Wir haben die Gefangenen nicht vergessen. Wir haben Jugoslawien nicht vergessen. Vor allem: Wir haben uns nicht vergessen. Wir wissen, daß für uns noch Zellen frei sind. Darauf sind wir stolz. Es beweist: Wir leben noch. Sie haben Angst: Wir kommen wieder.

Wir, die Jugoslawen aller Länder.

https://www.jungewelt.de/beilage/art/262150