14.05.2003 / 0 / Seite 1 (Beilage)

Denken als Gesellschaftskritik

Der erste Band des Briefwechsels zwischen den Philosophen Theodor W. Adorno und Max Horkheimer ist erschienen

Arnold Schölzel

Am 13. März 1933 wurde das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main von der Polizei durchsucht und geschlossen. Vier Monate später beschied ein Schreiben aus der Berliner Gestapo-Zentrale, das Vermögen des Instituts werde auf der Grundlage »des Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens vom 26. Mai 1933« beschlagnahmt und »zugunsten des Freistaats Preußen eingezogen«.

Das klappte nicht ganz. Das Stiftungsvermögen des 1924 gegründeten Instituts war – nicht zuletzt wegen der Sorge vor einer faschistischen Machtübernahme – im Ausland angelegt worden. Es ermöglichte zumindest in den nächsten Jahren die Fortsetzung der wissenschaftlichen Arbeit des Instituts, das seit 1930 von dem Philosophen Max Horkheimer (1895-1973) geleitet wurde. Obwohl das Institut offiziell nicht mit der KPD verbunden war, hatten kommunistische Intellektuelle an seiner Entstehung einen beachtlichen Anteil, wie z. B. der im Zweiten Weltkrieg als sowjetischer Kundschafter in Japan hingerichtete Richard Sorge. Unter dem Dach des Instituts erschien die deutsche Ausgabe der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe – bereits 1924 für die Leitung der Frankfurter Universität, der das Institut formal angeschlossen war, ein Skandal, gegen den die Öffentlichkeit mobilisiert wurde. Das Institut förderte zahlreiche kommunistische Studenten und Wissenschaftler, forschte zur Geschichte der Arbeiterbewegung und sammelte in einer rasch anwachsenden einmaligen Spezialbibliothek das Schrifttum linker Parteien und von Gewerkschaften der Weimarer Republik.

Die Mitarbeiter des Instituts konnten sich weitgehend dem Zugriff der Nazis entziehen. Vor allem aber gelang es, das wissenschaftliche Periodikum des Instituts, die Zeitschrift für Sozialforschung, zehn Jahre weiterzuführen, zunächst in Paris, später in den USA. Um die Zeitschrift versammelte sich ein Kreis von zumeist jüngeren aus Deutschland emigrierten Wissenschaftlern, die hier ihre oft einzige Publikationsmöglichkeit fanden. Sie machten die Zeitschrift praktisch zum Zentrum eines weitgehend auf den historischen Materialismus gegründeten breit angelegten wissenschaftlichen Ansatzes von der Literaturwissenschaft, über Psychologie und Soziologie bis zur Ökonomie.

Mit dem jetzt erschienenen ersten Band des Briefwechsels zwischen Horkheimer und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969) wird ein Teil der Mühe sichtbar, die nötig war, um Institut und Zeitschrift in der Emigration fortzuführen. Denn der größte Teil der Korrespondenz ist dem gewidmet. Neben drei Briefen aus den Jahren 1927 und 1932 enthält der Band den Austausch zwischen beiden vom September 1934 bis zum Dezember 1937. Horkheimer war 1934 bereits nach New York emigriert und hatte mit dem Institut Aufnahme an der Columbia Universität gefunden. Adorno arbeitete mit Hilfe eines Stipendiums einer englischen Hilfsorganisation seit dem Frühjahr 1934 in Oxford. Als Inhaber eines deutschen Passes mußte er regelmäßig nach Deutschland reisen, um nicht ausgebürgert zu werden. Im Oktober 1935 schreibt er kurz nach der Rückkehr von einer solchen Reise, deren letzte am Jahreswechsel 1936/37 stattfand: »In Deutschland war es grauenvoller als je, das Land ist wirklich bis in den kleinsten Alltag hinein zu einer Hölle geworden ... Das ist der Horizont, in dem ich jetzt vier Monate existieren mußte. Sie können sich denken, wie ich mich fühle. Ich habe mich in die Arbeit verbissen und habe Freude an ihr.«

Die letzte Bemerkung kann für die Stimmung, die in den Briefen vorherrscht, insgesamt genommen werden. Sie enthalten lange Berichte zu den jeweils eigenen Arbeiten oder denen anderer, kreisen durchgängig um konkrete wissenschaftliche Themen und ufern z. T. zu kleinen Traktaten aus. Es handelt sich um Dokumente heiterer Entschlossenheit, an den einmal gesteckten Zielen sich von den deutschen und anderen Zuständen in der Welt nicht abbringen zu lassen. Adorno und Horkheimer kommen immer wieder auf ihr Projekt zurück, ein Buch über materialistisch-dialektische Logik zu schreiben. Dazu kam es nicht, aber die Konzentration auf dieses Thema bestimmt ihre Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie. Der Briefwechsel zeigt, daß ihre Verachtung für Heideggers Philosophie ebenso wie ihre Kritik am in England und den USA vorherrschenden Positivismus sich aus dieser Intention speist. So kündigt Horkheimer im Oktober 1936 an, die Auseinandersetzung mit der »Wissenschaftlichen Philosophie« des logischen Empirismus solle im folgen Jahr »entschiedener erfolgen«. Er merkt an: »Bestand schon eine wichtige Funktion des Neukantianismus darin, durch die Apologetisierung des herrschenden Wissenschaftsbetriebs die Gesellschaft, deren Erhaltung eben dieser dient, zu verklären, so werden jetzt schamlos alle Sphären der Kultur überhaupt dem Irrationalismus preisgegeben.« Wenig später schreibt er: »Diese gegenwärtige Philosophie treibt Mathematik, der Rest ist Schweigen...Sie stellt (...) einen Teil des kulturellen Apparats dar, dessen Funktion es ist, die Menschheit stumm zu machen.«

Ihr beschränkter, abstrakter Wahrheitsbegriff sei »die Verklärung des Stillschweigens dieser letzten Liberalen, mit dem sie das Grauen, das durch ihre totalitären Nachfolger über die Welt gekommen ist, sanktionieren.«

Während Horkheimer das Fehlen von Gesellschaftstheorie im herrschenden Wissenschaftsverständnis kritisiert, formuliert Adorno noch bestimmter, zusammen mit der Theorie des dialektischen Materialismus sei die wichtigste Aufgabe des Instituts »eine theoretische Analyse der gegenwärtigen Situation des Klassenkampfes.«

Direkte Bezüge auf politische Ereignisse finden sich nur selten in den Briefen. Die wenigen aber sind klar. So analysiert Adorno im November 1935: »Hitler bekommt alles konzediert und man wird ihm am Ende wahrscheinlich Rußland preisgeben, nur damit er nicht über die anderen Länder herfällt (– und freilich auch, um Rußland definitiv loszuwerden; die Duldung der Hitlerei ist nur durch deren Büttelfunktion für den Kapitalismus zu erklären).« Im März 1936 prognostiziert er: »...in längstens zwei Jahren wird Deutschland über Rußland herfallen.«

Die Briefe dokumentieren zusammen mit den hier erstmals veröffentlichten Gutachten – darunter eines zu einer Arbeit des Historikers Ernst Engelberg – und Berichten ein bisher weitgehend unbekanntes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte. Sie sind darüberhinaus Dokumente einer Geisteshaltung, die nicht nur Wissen, sondern auch Denken also Gesellschaftskritik verpflichtet war. Das machte sie Nazis unerträglich und kaum zulässig im landläufigen Wissenschaftsbetrieb. Daran hat sich nichts geändert.

* Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Briefwechsel, Bd. I 1927–1937. Hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, 612 Seiten, 44,90 Euro

https://www.jungewelt.de/beilage/art/262108