16.07.2011 / Aktion / Seite 16
Demokratie- und Sozialabbau Hand in Hand
»Hunderte Kinder und Jugendliche wollten sich gegen die
Schließung ihrer Zentren und Treffpunkte wehren. Deshalb sind
sie zur Ratssitzung nach Neukölln gegangen. Sie konnten nicht
verstehen, daß dort über ihre Angelegenheiten
beschlossen werden sollte, ohne sie anzuhören. Ein
Jugendlicher wurde im Rathaus urplötzlich von zwei
Zivilpolizisten angegriffen, die ihn gegen die Wand schubsten, dann
auf den Boden warfen und ihm Handschellen anlegten – ohne
daß es einen besonderen Anlaß gegeben
hätte.«
Cigir Özyurt
(Cigir Özyurt ist Jugendsozialarbeiter, lebt in
Berlin-Neukölln und ist aktiv in der Initiative Grenzen-Los in
Berlin-Moabit. Am 13. Juli beteiligte er sich an Sozialprotesten
gegen massive Kürzungen in der Jugendhilfe und wurde Zeuge
eines Polizeiübergriffs gegen Minderjährige.
Schließlich wurde er selbst festgenommen.)
Der Berliner Bezirk Neukölln ist so etwas wie das Armenhaus im
Armenhaus der Bundesrepublik – denn das ist deren Hauptstadt.
Der Bürgermeister von etwa 312000 Einwohnern heißt Heinz
Buschkowsky (SPD). Hier ist ungefähr jeder vierte
Erwerbsfähige arbeitslos, im Durchschnitt verfügen
Neuköllnerinnen und Neuköllner über ein Einkommen
zwischen 700 und 800 Euro, ihre Kinder schafften zu rund 70 Prozent
2008 keinen Hauptschulabschluß. Buschkowsky ist bekannt als
Kolumnist der regionalen Bild-Ausgabe und steht Sarrazins Thesen
zumindest nicht sehr fern. Die soziale Frage, die er täglich
auf den Straßen besichtigen kann, wird da schnell zu einer
Migranten- und Einwanderungsfrage. Das ist in Teilen des Bezirks
durchaus populär, wie sich an guten Wahlergebnissen für
rechte Parteien in einigen Ortsteilen mit alter Westberliner
Fronstadtbewohnerschaft seit Jahrzehnten ablesen läßt.
Herr Buschkowsky hat kürzlich der Jugendstadträtin seines
Bezirks, Gabriele Vonnekold (Grüne),
»Mißwirtschaft« und »mangelnde
Kommunikation« vorgeworfen, weil in ihrem Etat 2011 mehr als
vier Millionen Euro Defizit zu erwarten sind. Buschkowsky, der auch
Finanzstadtrat ist, kündigte vorsorglich am 30. Juni 48
Einrichtungen der Jugendhilfe zum 30. September, darunter 25
allgemeinen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche, 15
Schulstationen und acht sonderpädagogischen Projekten. Die
Linke des Bezirks nannte das eine »unglaubliche
Sauerei«. Die Kündigungen bewirkten auch Entlassungen
von Mitarbeitern. Das sei »Gutsherrenart«. Vor Beginn
einer Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung protestierten
Hunderte Kinder, Jugendliche und Sozialarbeiter vor dem
Neuköllner Rathaus nd forderten die sofortige Rücknahme
der Kürzungsorgie. Nach Aussagen der Jugendstadträtin
liegt der Bezirk bei der nach Stunden bemessenen
Jugendförderung pro Jahr gegenüber vergleichbaren
Bezirken in Berlin weit hinten. Einen ersten Erfolg hatten die
Proteste: Die Kündigungen sollen zurückgenommen werden,
aber nur befristet – die Verträge gelten bis zum
Jahresende.
So soll die Empörung ausgesessen werden. Aus unserer Sicht
hilft da nur: Dranbleiben – auch mit einem junge
Welt-Abonnement. Wir lassen nämlich nicht locker.
Verlag und Redaktion
https://www.jungewelt.de/artikel/167111.demokratie-und-sozialabbau-hand-in-hand.html