01.06.2011 / Ausland / Seite 6
Indiens Reichtum beruht auf Hunger
Chronische Unterernährung im »Wirtschaftswunderland«
Ashok Rajput, Neu-Delhi
Der namhafte indische Menschenrechtler, Arzt und engagierte Anwalt
der Armen und Bedürftigen, Binayak Sen, leuchtete dieser Tage
vor Journalisten im Presseclub von Mumbai hinter die Fassade des
indischen »Wirtschaftswunders«. Er schilderte die
dramatische Lage für einen großen Teil der
Bevölkerung, die unter chronischem Hunger leidet. Und er
nannte finanzielle, soziale und politische Ungleichheit eins der
gegenwärtigen Hauptprobleme.
Unterernährung habe eine dramatische Dimension erlangt. Ein
Körpermasseindex (Body-Mass-Index; BMI) von unter 18,5, so der
Arzt, weise auf chronische Mangelernährung hin. Laut Angaben
des Nationalen Ernährungsinstituts liegt der BMI von 37
Prozent aller erwachsenen Inder unter 18,5. Von der indigenen
Bevölkerung sind 50 Prozent betroffen. Auch unter der
Minderheit – gemeint sind die Muslime – sei ein BMI von
unter 18,5 verbreitet.
47 Prozent aller indischen Kinder in der Altersgruppe bis fünf
Jahre sind untergewichtig. Ein Drittel aller Neugeborenen kommt
unterernährt auf die Welt, womit bereits die Weichen für
spätere zahlreiche Gesundheitsprobleme gestellt sind.
»Wenn wir den Maßstab der Weltgesundheitsorganisation
anlegen, dann befinden sich große Teile unserer
Bevölkerung in einem Zustand chronischer
Unterernährung«, stellte Binayak Sen fest.
Der Menschenrechtsaktivist machte deutlich, daß dieses
Problem im Zusammenhang mit den 1991 begonnenen
marktwirtschaftlichen Reformen und dem Liberalisierungskurs zu
sehen ist. Im Sommer will das Parlament ein Gesetz über
Landerwerb zur Debatte stellen. Darin geht es vorwiegend um Acker-,
Weide- und Forstland in Gemeinschaftsbesitz, das für private
industrielle Zwecke oder den Immobilienmarkt erschlossen werden
soll. Praktisch bedeutet das den Verlust der Existenzgrundlage
für Tausende Menschen. Binayak Sen äußerte dazu:
»Das ist das erste Mal, daß wir es als legitim
betrachten, den Armen etwas wegzunehmen und es den Reichen zu
geben.« Die Regierung handele als Garant des Prozesses der
Enteignung von in Gemeineigentum befindlichen Ressourcen und
händige diese privaten Interessenten aus.
In diesem Zusammenhang erwähnte Sen das Projekt, in der
Nähe der Hafenstadt Jaitapur im Bundesstaat Maharashtra am
Arabischen Meer ein 9900-MW-Kernkraftwerk mit einem Kostenaufwand
von fast zehn Milliarden Dollar vom französischen Atomkonzern
Areva bauen zu lassen – in einer Zone, die weder erdbeben-
noch tsunamisicher ist. Die Menschen dort, so unterstrich Sen,
wollen ihr Land nicht für ein solches Projekt hergeben.
»Nach Fukushima, glaube ich, sollten jene, die irgendwo ein
Kernkraftwerk errichten lassen wollen, mit Verlaub gesagt, sich
medizinisch untersuchen lassen«, führte er aus.
Binayak Sen wurde vom Gericht im Bundesstaat Chhattisgarh wegen
angeblicher, nie bewiesener Kollaboration mit den maoistischen
Rebellen zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch durch Entscheid
des höchsten Gerichtshofes gegen Kaution auf freien Fuß
gesetzt. Seit kurzem arbeitet er in einem Ausschuß der
staatlichen Plankommission mit, wo er seine kritischen Bemerkungen
zu sozialen Fragen einbringt.
https://www.jungewelt.de/artikel/164770.indiens-reichtum-beruht-auf-hunger.html